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Der Fürst des Nebels

Der Fürst des Nebels

Titel: Der Fürst des Nebels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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erklären.
»Ich weiß, was ich gesehen habe«, unterbrach ihn Max. »Verstanden?«
»Verstanden«, lenkte Roland ein. »Du hast ein Zeichen gesehen, das, wie du sagst, auch in dieser Art von Friedhof zu sehen ist, den es hinter eurem Haus gibt. Na und, was ist schon dabei?«
Max stand auf und blickte seinen Freund eindringlich an.
»Na und? Soll ich dir die ganze Geschichte noch einmal wiederholen?«
Max hatte die letzten fünfundzwanzig Minuten damit verbracht, Roland alles zu erklären, was er im Skulpturengarten gesehen hatte, und er hatte ihm auch von dem Film Jacob Fleischmanns erzählt.
»Das ist nicht nötig«, erwiderte Roland trocken.
»Wie ist es dann möglich, daß du mir nicht glaubst?« warf Max ihm an den Kopf. »Meinst du etwa, ich hätte das alles erfunden?«
»Ich habe nicht gesagt, daß ich dir nicht glaube, Max«, sagte Roland, während er Alicia flüchtig anlächelte, die von ihrem Spaziergang über den Strand mit einer kleinen Tasche voller Muscheln zurückgekehrt war. »Warst du erfolgreich?«
»Dieser Strand ist ein Museum«, antwortete Alicia und ließ die Tasche mit ihrer Beute klappern.
Max verdrehte ungeduldig die Augen.
»Du glaubst mir also?« unterbrach er sie, indem er Roland herausfordernd ansah.
Sein Freund erwiderte seinen Blick und blieb einige Sekunden lang still.
»Ich glaube dir, Max«, murmelte er und wandte den Blick zum Horizont, ohne einen Anflug von Traurigkeit verbergen zu können. Alicia bemerkte die Veränderung in Rolands Gesichtsausdruck.
»Max sagt, daß dein Großvater auf diesem Schiff war, in der Nacht, als es unterging«, sagte sie und legte ihre Hand auf die Schulter des Jungen. »Stimmt das?«
Roland nickte vage.
»Er war der einzige Überlebende«, antwortete er schließlich.
»Was ist passiert?« fragte Alicia. »Entschuldige. Vielleicht willst du nicht darüber reden.«
Roland schüttelte den Kopf und lächelte die beiden Geschwister an.
»Nein, es macht mir nichts aus.« Max sah ihn erwartungsvoll an. »Und es ist auch nicht so, daß ich deine Geschichte nicht glauben würde, Max. Es ist nämlich nicht das erste Mal, daß mir jemand von diesem Zeichen erzählt hat.«
»Wer hat es sonst noch gesehen?« fragte Max mit offenem Mund. »Wer hat dir davon erzählt?«
Roland lächelte.
»Mein Großvater. Er hat immer wieder davon geredet, schon als ich noch klein war.« Roland zeigte ins Innere der Hütte. »Es wird kühler. Laßt uns hineingehen; ich werde euch die Geschichte dieses Schiffes erzählen.«
    Anfangs meinte Irina, die Stimme ihrer Mutter im unteren Stockwerk zu hören. Andrea Carver redete oft mit sich selbst, wenn sie durchs Haus lief, und keiner in der Familie wunderte sich mehr über diese Angewohnheit der Mutter. Einen Augenblick später jedoch sah Irina durch das Fenster, wie ihre Mutter Maximilian Carver verabschiedete, der sich anschickte, ins Dorf zu gehen, begleitet von einem der Träger, die ihnen vor einigen Tagen geholfen hatten, das Gepäck vom Bahnhof herzubringen. Irina wurde klar, daß sie gerade allein im Haus war und daß jene Stimme, die sie zu hören geglaubt hatte, Einbildung gewesen sein mußte. Bis sie sie wieder hörte, diesmal in ihrem eigenen Zimmer, wie ein Flüstern, das durch die Wände drang.
    Die Stimme schien aus dem Schrank zu kommen und klang wie ein entferntes Murmeln, dessen Worte man nicht erkennen konnte. Zum ersten Mal seit sie in dem Haus am Strand angekommen waren, verspürte Irina Angst. Sie starrte auf die dunkle, verschlossene Tür des Schranks und stellte fest, daß ein Schlüssel im Schloß steckte. Ohne nachzudenken, lief sie zum Schrank und drehte hastig den Schlüssel um, bis die Tür fest verschlossen war. Sie wich zwei Meter zurück und holte tief Luft. Dann hörte sie diesen Laut von neuem und begriff, daß es nicht nur eine Stimme war, sondern mehrere flüsternde Stimmen gleichzeitig.
    »Irina?« rief ihre Mutter vom unteren Stockwerk her.
Die warme Stimme von Andrea Carver riß sie aus der Trance, in die sie versunken war. Ein Gefühl der Beruhigung hüllte sie ein.
»Irina, wenn du oben bist, komm runter, und hilf mir einen Augenblick.«
Seit Monaten hatte Irina nicht mehr solche Lust gehabt, ihrer Mutter zu helfen, ganz egal, welche Arbeit sie erwartete. Sie wollte gerade die Treppe hinunterlaufen, als ein eiskalter Windhauch über ihr Gesicht strich und den Raum durchquerte. Plötzlich fiel die Zimmertür mit einem Schlag zu. Irina stürzte zur Tür und bearbeitete mit aller Kraft den Knauf, der

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