Der Fürst des Nebels
Minuten. Mein Großvater überlebte, denn er hielt sich in einem Rettungsboot versteckt. Alle anderen ertranken.«
Max schluckte.
»Willst du damit sagen, daß die Körper noch dort unten sind?«
»Nein«, erwiderte Roland. »Im Morgengrauen des folgenden Tages lag stundenlang dichter Nebel über der Küste. Die ortsansässigen Fischer fanden meinen Großvater bewußtlos genau an diesem Strand hier. Als der Nebel sich auflöste, durchkämmten viele Fischerboote das Gebiet des Schiffbruchs. Sie fanden nie auch nur einen einzigen Körper.«
»Aber, dann...« unterbrach ihn Max mit leiser Stimme.
Mit einer Handbewegung wies Roland ihn an, ihn fortfahren zu lassen.
»Sie brachten meinen Großvater in das Ortskrankenhaus, und er phantasierte dort tagelang. Als er sich erholt hatte, beschloß er, aus Dankbarkeit dafür, wie es ihm ergangen war, einen Leuchtturm zu erbauen, oben auf der Steilküste, um zu verhindern, daß sich ein Unglück wie jenes noch einmal wiederholte. Später wurde er selbst der Leuchtturmwärter.«
Die drei Freunde schwiegen lange, nachdem sie Rolands Bericht gehört hatten. Schließlich tauschte Roland einen Blick mit Alicia und dann mit Max.
»Roland«, sagte Max, während er sich bemühte, Worte zu finden, die seinen Freund nicht verletzten, »an dieser Geschichte stimmt etwas nicht. Ich glaube, daß dein Großvater dir nicht alles erzählt hat.«
Roland blieb einige Sekunden lang stumm. Dann sah er die beiden Geschwister mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen an und nickte einige Male, ganz langsam.
»Ich weiß«, murmelte er. »Ich weiß.«
Irina spürte, wie ihre Hände starr wurden, während sie erfolglos versuchte, den Türknauf aufzubrechen. Atemlos drehte sie sich um und drückte sich mit all ihrer Kraft gegen die Zimmertür. Sie konnte nicht anders, sie mußte auf den Schlüssel starren, der sich im Schloß der Schranktür drehte.
Endlich hörte der Schlüssel auf, sich zu bewegen, und fiel, wie durch unsichtbare Hände angestoßen, auf den Boden. Ganz langsam begann sich die Schranktür zu öffnen. Irina versuchte zu schreien, doch sie spürte, daß ihr die Luft fehlte, um auch nur ein Flüstern hervorzubringen.
Aus dem Halbdunkel des Schrankes tauchten zwei leuchtende und vertraute Augen auf. Irina atmete auf. Es war ihre Katze. Es war nur ihre Katze. Eine Sekunde lang hatte sie geglaubt, das Herz würde ihr stehenbleiben vor lauter Panik. Sie kniete sich hin, um das Tier hochzuheben, als sie bemerkte, daß hinter der Katze, im Inneren des Schrankes, noch etwas anderes war. Die Katze sperrte ihr Maul auf und stieß ein lautes und erschütterndes Fauchen hervor, wie das einer Schlange, und dann verschmolz sie in der Dunkelheit mit ihrem Gebieter. Ein Lächeln aus Licht flammte im Dunkel auf, und zwei Augen, glänzend wie glühendes Gold, sahen in ihre, während die Stimmen einhellig ihren Namen riefen. Irina schrie aus vollem Hals und warf sich gegen die Zimmertür, die ihrem Druck nachgab, so daß sie auf den Boden des Flurs fiel. Ohne Atem zu schöpfen, warf sie sich die Treppe hinunter, während sie den kalten Hauch jener Stimmen im Nacken spürte.
Für den Bruchteil einer Sekunde beobachtete Andrea Carver wie gelähmt ihre Tochter, die von ganz oben die Treppe herabsprang, das Gesicht von Schrecken gerötet. Sie schrie ihren Namen, doch es war schon zu spät. Die Kleine fiel und rollte wie eine leblose Last bis zur letzten Stufe hinunter. Andrea Carver stürzte zu Füßen des Mädchens und nahm ihren Kopf in die Arme. Blutstropfen liefen über Irinas Stirn. Die Mutter tastete ihren Hals ab und spürte einen schwachen Puls. Gegen ihre eigene Hysterie ankämpfend, hob Andrea Carver den Körper ihrer Tochter hoch und versuchte zu überlegen, was zu tun war.
Während die schlimmsten Augenblicke ihres Lebens mit unendlicher Langsamkeit verstrichen, richtete Andrea Carver den Blick auf das obere Ende der Treppe. Von der letzten Stufe aus schaute Irinas Katze sie starr an. Sie ertrug den grausamen und höhnischen Blick des Tieres den Bruchteil einer Sekunde lang. Dann, während sie den Körper ihrer Tochter in ihren Armen pochen spürte, reagierte sie und lief zum Telefon.
Kapitel 7
A ls Max, Alicia und Roland beim Haus am Strand ankamen, stand der Wagen des Arztes noch dort, Roland warf Max einen fragenden Blick zu. Alicia sprang vom Fahrrad herunter und rannte die Eingangstreppen hinauf. Sie wußte, daß etwas nicht in Ordnung war. Maximilian Carver empfing sie mit glasigen
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