Der Fürst des Nebels
den Ballen aufzuschnüren, der die Taucherausrüstung enthielt.
»Das Schiff befindet sich etwa fünfundzwanzig oder dreißig Meter vom Ufer entfernt. Dieser Strand ist tiefer, als er aussieht; nach drei Metern hat man schon keinen Grund mehr. Der Schiffsrumpf liegt in ungefähr zehn Metern Tiefe«, erklärte Roland.
Alicia und Max warfen sich einen Blick zu.
»Ja, man sollte besser nicht versuchen, gleich beim ersten Mal bis ganz unten hin zu kommen. Manchmal, wenn das Meer unruhig ist, ohne daß man es an der Oberfläche merkt, bilden sich Strömungen, und das kann gefährlich sein. Einmal habe ich wirklich Todesangst ausgestanden.«
Roland zog eine Brille und Schwimmflossen hervor.
»Gut. Wir haben nur für zwei Leute Ausrüstung. Wer geht als erstes runter?«
Alicia zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Max.
»Besten Dank. Schwesterherz«, säuselte Max.
»Mach dir keine Sorgen, Max«, beruhigte ihn Roland. »Anfangen ist alles. Als ich zum ersten Mal runterging, da machte mir jede Kleinigkeit etwas aus. Da war eine gewaltige Muräne in einem der Schächte.«
»Eine was?« fuhr Max hoch.
»Gar nichts«, erwiderte Roland. »Das war nur ein Scherz. Dort unten gibt es keine Tiere. Ich verspreche es dir. Und das ist außergewöhnlich, denn normalerweise sind versunkene Schiffe wie riesige Aquarien. Aber dieses nicht. Es gefällt den Fischen nicht, vermute ich. Hör mal, du wirst doch jetzt keine Angst kriegen, oder?«
»Angst?« sagte Max. »Ich?«
Während Max sich die Schwimmflossen anzog, beobachtete er, wie Roland seine Schwester eingehend musterte. Sie zog gerade ihr Baumwollkleid aus, unter dem sie ihren weißen Badeanzug trug. Alicia ging ins Wasser, bis es ihre Knie bedeckte.
»Hör mal«, flüsterte er ihm zu, »das ist meine Schwester und kein Marzipantörtchen. Klar?«
Roland grinste ihn augenzwinkernd an.
»Du hast sie mitgebracht, nicht ich«, antwortete er.
»Ab ins Wasser mit dir«, unterbrach ihn Max. »Die Abkühlung wird dir gut tun.«
Alicia drehte sich um und beobachtete die beiden, die herausgeputzt waren wie Witzfiguren mit ulkigen Grimassen.
»Was für Gestalten!« murmelte sie, ohne sich das Lachen verbeißen zu können.
Max und Roland sahen einander durch die Taucherbrillen an.
»Noch eines«, gab Max zu verstehen, »ich habe das noch nie gemacht. Das Tauchen, meine ich. Ich bin in Schwimmbädern geschwommen, klar, aber ich bin nicht sicher, ob ich das hier kann...«
Roland verdrehte die Augen.
»Kannst du unter Wasser atmen?« fragte er geheimnisvoll.
»Ich habe gesagt, daß ich nicht tauchen kann, und nicht, daß ich dumm bin«, erwiderte Max.
»Wenn du im Wasser atmen kannst, dann kannst du tauchen«, erklärte Roland.
»Seid vorsichtig«, bat Alicia, »Hör mal, Max, bist du sicher, daß das mit dem Tauchen eine gute Idee ist?«
»Es wird uns nichts passieren«, versicherte Roland. Er drehte sich zu Max um und klopfte ihm dabei auf die Schulter. »Sie zuerst, Käpt'n Nemo.«
Max tauchte zum ersten Mal in seinem Leben unter die Meeresoberfläche, und vor seinen staunenden Augen öffnete sich ein Reich aus Licht und Schatten, das alles übertraf, was er sich vorgestellt hatte. Die Sonnenstrahlen drangen in verschwommenen Schleiern aus Helligkeit ein, die langsam hin und her wogten, und die Wasseroberfläche hatte sich in einen undurchsichtigen tanzenden Spiegel verwandelt. Er hielt noch ein paar Sekunden länger den Atem an und tauchte dann wieder auf, um Luft zu holen. Roland war nur ein paar Meter von ihm entfernt und gab aufmerksam auf ihn acht.
»Alles in Ordnung?« fragte er.
Max nickte begeistert.
»Siehst du? Es ist ganz leicht. Bleib immer neben mir« wies Roland ihn an, bevor er erneut losschwamm.
Max warf einen letzten Blick zum Ufer und sah, wie Alicia ihm lächelnd zuwinkte. Er winkte zurück und beeilte sich, neben seinem Kameraden herzuschwimmen, ins offene Meer hinaus. Roland führte ihn bis zu einem Punkt, von dem aus der Strand weit entfernt wirkte, obwohl Max wußte, daß nur etwa dreißig Meter zwischen ihm und dem Ufer lagen. Dicht an der Meeresoberfläche wuchsen die Entfernungen. Roland berührte ihn am Arm und zeigte zum Grund. Max holte Luft und tauchte den Kopf unter das Wasser, nachdem er die Gummi
bänder der Taucherbrille zurechtgerückt hatte. Seine Augen brauchten einige Zeit, um sich an das schwache Halbdunkel unter Wasser zu gewöhnen. Erst dann konnte er den Anblick des versunkenen Schiffsrumpfes bewundern, der auf der Seite lag und in ein
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