Der Funke des Chronos
woran ich mich erinnere.«
Tobias deutete mit dem Daumen auf die Straße, wohl war ihm bei dieser Flunkerei allerdings nicht. Tatsächlich konnte er sich an der Flut der Eindrücke ringsum nicht satt sehen. Er wusste selbst nicht, was er erwartet hatte, aber das Hamburg dieser Zeit unterschied sich in fast allem von jener Stadt, in der er aufgewachsen war. Ihm war, als sei er in ein belebtes Diorama geraten, in dem Schauspieler die Biedermeierzeit vor einer mittelalterlichen Stadtkulisse aufleben ließen. Die Fassaden der kleinen, hohen, schiefen und stolzen Fachwerkhäuser, an denen sie vorbeifuhren, fesselten seine Aufmerksamkeit ebenso sehr wie die altertümlich gekleideten Bürger, die ihrem Tagewerk nachgingen. Darunter Fischhändler, Wasserträger, Dienstmädchen, Brauerknechte und manch vornehm gekleideter Bürger. All dies mit eigenen Augen erleben zu können, war wie ein Rausch, der ihn seine Nöte für eine Weile vergessen ließ.
Doch, um wie viel anders wäre sein Aufenthalt in dieser Zeit wohl verlaufen, wäre er Caroline nicht begegnet? Entschuldigend blickte Tobias seine Reisegefährtin an und kämpfte den Zwang nieder, sich wieder am Ohr zu kratzen, dort, wo ihm der steife Kragen zunehmend die Haut aufscheuerte.
»Ich denke«, meinte er, »dass es längst überfällig ist, mich bei Ihnen zu bedanken. Die Herzlichkeit, mit der Sie und Ihre Familie mich aufgenommen haben, ist alles andere als selbstverständlich. Ich verspreche Ihnen, dass ich versuchen werde, Ihnen nicht lange zur Last zu fallen.«
»Sie fallen uns nicht zur Last.« Caroline lächelte zaghaft und wandte scheu den Blick ab. »Die Aufregung, die Sie in unser Haus gebracht haben, tut uns allen recht gut.«
Tobias runzelte die Stirn und fragte sich, warum Caroline plötzlich so melancholisch wirkte.
»Darf ich fragen, wie ich das zu verstehen habe?«
»Ach, geben Sie einfach nichts auf mein Reden.« Sie winkte leichthin ab, und eine Weile waren nur das Rattern der Räder und das Getrappel der Pferdehufe zu hören.
»Leiden Sie wirklich unter Gedächtnisverlust, Herr Tobias?«
Das traf ihn unvorbereitet. Einem Reflex folgend wollte er schon bejahen, doch dann zögerte er. Irgendwie kam er sich Caroline gegenüber schäbig vor. Jede andere hätte einen verdächtigen Fremden wie ihn gestern Nacht einfach in der Gosse liegen lassen. Völlig egal, ob er den beiden jungen Frauen zu Hilfe geeilt war. Nicht jedoch sie.
»Nein. Ich … habe geschwindelt«, kam es ihm stockend über die Lippen. »Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Trotzdem kann ich Ihnen nicht sagen, wer ich bin und woher ich komme. Ich darf es nicht. Nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Sie würden mir nicht glauben. Vielleicht würden Sie mich sogar für verrückt erklären. Ich kann im Augenblick nur eines tun: Sie bitten, mir weiterhin zu vertrauen. Ich schwöre Ihnen, dass ich nichts Ungesetzliches getan habe und dass meine Dankbarkeit Ihnen und Ihrer Familie gegenüber so aufrichtig ist, wie ich es nur auszudrücken vermag. Hätte uns der Zufall gestern Nacht nicht zusammengeführt …« Tobias rang nach Worten. »Gestern habe nicht ich Sie, sondern Sie haben mich gerettet, Mamsell. Das ist die Wahrheit.«
Die junge Frau musterte ihn stumm. Tobias wartete darauf, dass sie Kristian entrüstet das Signal gab, anzuhalten und ihn abzusetzen. Doch sie schwieg und musterte ihn weiterhin prüfend.
Längst war die Droschke von der Hauptstraße abgebogen. Sie kamen an einer großen Kirche vorbei, deren schlanker, spitzgiebeliger Turm stolz in den blauen Frühlingshimmel aufragte. Tobias beschlich ein heimeliges Gefühl. Er erkannte das Gotteshaus mit seinem gotisch geformten Seitenschiff wieder. Das war die Petrikirche! Als wolle sie ihn begrüßen, hob oben am Turm gerade ein altersschwaches Glockenspiel an, das sicher weithin in der Stadt zu hören war.
»Nun danket alle Gott«, murmelte Caroline. Als sie Tobias’ fragenden Blick bemerkte, schenkte sie ihm ein ernstes Lächeln und deutete nach oben. »Die Melodie des Glockenspiels. Nun danket alle Gott. Es gibt keine Zufälle im Leben, Herr Tobias. Alles folgt einem geheimen Plan.«
Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte.
»Ist denn Tobias Ihr richtiger Name?«
Er nickte, während die Kirche seinen Blicken entschwand. »Ebenso, dass ich Medizinstudent bin. Ich bin gestern Abend in der Stadt angekommen.« Auch letzteres entsprach der Wahrheit. Irgendwie.
»Ich hatte also recht. Sie stammen nicht aus
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