Der Funke des Chronos
mit einem Rundumschlag auf Distanz zu bringen, doch seine Bewegungen erschlafften zunehmend und wurden unkoordinierter. Selbst das Zischen der Ventile schien nur noch aus weiter Ferne zu ihm zu dringen. Tobias stolperte zurück zum Kamin. Erneut wehrte er einen Schlag des Kapuzenträgers ab. Wo war der Kahlköpfige? Die Tür zum Gang stand leer.
Jäh traf ihn ein wuchtiger Hieb in den Rücken, und er ging stöhnend in die Knie. Bevor er es verhindern konnte, war der Kapuzenträger da und fegte ihm mit einem gezielten Tritt die Waffe aus der Hand. Tobias wurde von einem weiteren Hieb getroffen und endgültig zu Boden gerissen. Der Breitschultrige schob den seltsamen Koffer nun genau neben ihn. Sein Widerstand erlahmte. Nur mit Mühe gelang es ihm, bei Bewusstsein zu bleiben. Jemand drehte Tobias auf den Rücken – benommen öffnete er die Augen: und starrte in eine Pistolenmündung.
»Wer sind Sie?« lallte er.
Der Kapuzenträger antwortete ihm nicht. Er packte ihn vielmehr an den Aufschlägen seines Hemdes und spannte den Hahn. Das letzte, was Tobias hörte, war ein Schuss.
Spuren
Hamburg 1842, 2. Mai,
3 Minuten vor Mitternacht
P olizeiaktuar Kettenburg stand in der guten Stube seiner Wohnung am Dammtorwall und zog mit ernster Miene an seiner Meerschaumpfeife. Nachdenklich blickte er dem kunstvollen Rauchkringel hinterher, der auf den Lüster an der Zimmerdecke zuschwebte. Obwohl die Kerzen über ihm den Raum hell erleuchteten, vermochte ihr Schein seine düsteren Gedanken nicht zu verscheuchen.
Die geräumige Wohnung des Beamten lag unmittelbar unter dem Dach, im dritten Obergeschoß eines Hauses mit Blick auf einige Ladengeschäfte sowie das weiß gekalkte Stadttheater auf der Straße gegenüber. Tagsüber herrschte geschäftiges Treiben vor dem Gebäude. Durch das nahe Stadttor drängten dann Bauern und Geschäftsleute aus dem nahen Holstein. Außerdem hatte man von hier oben aus einen guten Blick auf die Leichenzüge, deren Ziel die Friedhöfe vor dem Stadtwall waren. Manchmal marschierte auch ein Trupp Stadtgardisten hinaus zum Exerzierplatz nahe der Rothenbaumchaussee. Zu dieser nächtlichen Stunde jedoch herrschte Ruhe auf den Straßen. Längst hatte auch das Theater seine Pforten geschlossen. Einzig das ferne Läuten der Kirchturmglocken erinnerte Kettenburg daran, wie spät es inzwischen war.
Kaum war er von dem Gartenfest der Lewalds nach Hamburg zurückgekehrt, hatte sich der Beamte wieder in die Arbeit gestürzt. Der Wohnzimmertisch und die Sitzfläche seines gemütlichen schafsledernen Ohrensessels waren mit Büchern, Akten und Papieren übersät. Allmählich ähnelte der Raum seinem Bureau im Stadthaus.
Hätten seine Kollegen gewusst, dass er von den Dokumenten jedes wichtigen Falls, mit dem er betraut war, Kopien anlegte und mit nach Hause nahm, hätte er zumindest Befremden damit ausgelöst. Doch die Ansichten seiner Kollegen waren Kettenburg herzlich gleichgültig. Die Polizeiarbeit war ihm ein Lebenselixier. Hin und wieder ertappte er sich bei dem Gedanken, dass es dort draußen in der Stadt möglicherweise mehr Schatten als Licht gab. Das Verbrechen hatte unzählige Gesichter. Es ähnelte den Häuptern einer Hydra. Schlug man dem Untier einen Kopf ab, wuchsen kurz darauf zwei weitere nach. Kein Wunder, dass im Stadthaus resigniert von Don Quichottes Kampf gegen die Windmühlenflügel gesprochen wurde. Doch irgend jemand musste die Sache des Gesetzes vertreten. Außerdem war die Arbeit das einzige Mittel, Vergessen zu finden …
Kettenburg schüttelte die unangenehmen Gedanken ab und klopfte die Pfeife in einer kleinen Tonschale aus. Er sollte sich besser wieder auf den vorliegenden Fall konzentrieren. Auch wenn ihm die Suche nach dem Täter, der seine Opfer auf bestialische Weise zu Tode folterte, allmählich Kopfschmerzen bereitete.
Wer sägte seinen Opfern bei lebendigem Leib den Kopf auf? Ein Wahnsinniger? Oder steckte etwas anderes dahinter? Schon vor einigen Tagen war Kettenburg ein entsetzlicher Verdacht gekommen. Was, wenn es sich bei alledem um eine Serie von Ritualmorden handelte?
Der Polizeiaktuar griff erneut nach einem in rotes Maroquinleder gebundenen Folianten, der aufgeklappt zwischen den Papieren auf dem Wohnzimmertisch lag. Das Buch war Eigentum der Stadtbibliothek am Speersort und 1758 von einem Volkskundler in Frankfurt verfasst worden. Kettenburg hatte das Werk bereits vor vielen Jahren als Schüler des Johanneums in Händen gehalten, und schon damals
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