Der Funke des Chronos
hatte ihn sein Inhalt sprachlos gemacht. Der Band beschäftigte sich mit Menschenopfern und rituellen Tötungen aus allen Epochen der Menschheitsgeschichte. Nahm man den Inhalt des Buchs ernst, waren Ritualmorde nach festgelegtem Muster nichts Ungewöhnliches. Man hatte im Altertum Menschen zur Weihe von Tempeln und Bauwerken geopfert. In heidnischen Zeiten hatten Priester versucht, die Zukunft aus Körperteilen erschlagener Gefangener oder Sklaven zu deuten. Die Griechen, Phönizier und Karthager bildeten da ebenso wenig eine Ausnahme wie die Kelten, die Strabo zufolge Menschen geopfert hatten, um aus ihren Todeszuckungen die Zukunft zu weissagen. Der Inhalt des Buchs las sich wie eine scheußliche Auflistung menschlicher Verirrungen.
Wie erwartet sparte der Autor am Ende seiner Schrift nicht mit wilden Mutmaßungen über grausame Ritualmorde, für die dieser Tage angeblich die Juden und Freimaurer verantwortlich waren. Hetztiraden wie diese waren natürlich blanker Unsinn. Doch in Zeiten großer Unzufriedenheit und enttäuschter Erwartungen schienen viele Zeitgenossen nur allzu gern bereit, solchen Verschwörungstheorien Glauben zu schenken. Die letzten Hepp-Hepp-Krawalle*, bei denen eine aufgebrachte Menschenmenge jüdische Gäste aus den vornehmen Lokalen am Jungfernstieg geworfen hatte, waren erst gute zehn Jahre her. Für Tumulte dieser Art bedurfte es oft nur eines geringfügigen Anlasses. Das konnte zum Beispiel eine ungeklärte Mordserie sein.
Der Autor der Schrift war ohne Zweifel nicht frei von Vorurteilen gewesen und der Inhalt daher mit Vorsicht
* Beginnend mit 1819 setzte im Deutschen Bund eine Serie von Krawallen ein, in der unzufriedene Arbeiter, Bauern und Studenten die Schuld an den Problemen der frühen Industrialisierung der jüdischen Bevölkerung zuschoben. Ihr Schlachtruf ›Hepp-Hepp‹ leitet sich vom lateinischen ›Hierosolyma est perdila‹ (Jerusalem ist hinüber) ab.
zu genießen. Dennoch fragte sich Kettenburg, ob das Buch der Schlüssel zum Verständnis dessen war, warum all die Leichen auf die stets gleiche, grausame Weise zu Tode gemartert worden waren. Dafür musste es einen Grund geben.
Kettenburg beschlich das ungute Gefühl, dass er bei alledem etwas Wichtiges übersah. Nur was?
Morgen Abend würde Ingenieur Lindley die schlittenförmige Gerätschaft inspizieren, die seine Untergebenen aus dem Kanal geborgen hatten. Dringend benötigte er weitere Hinweise. Und wenn sich dabei nur herausstellte, dass der Tote und die obskure Apparatur in keiner Verbindung zueinander standen. Nur glauben mochte er es nicht.
Ein klickendes Geräusch riss Kettenburg aus seinen Gedanken. Er fuhr zu dem schmalen Erker inmitten der Dachschräge herum, von wo aus er einen Blick auf die Straße vor dem Haus werfen konnte. Das Geräusch wiederholte sich. Jemand warf Kiesel gegen die Fensterscheibe. Der Polizeiaktuar ergriff sicherheitshalber seinen Dienststock, öffnete die Riegel und spähte misstrauisch nach draußen. Ein warmer Nachtwind strich ihm über das Gesicht und trug den ewigen Gestank der Dachtraufen heran, die seine Nachbarn aus Bequemlichkeit als Aborte missbrauchten.
»Wer ist da?« fauchte der Beamte. Sein Blick glitt die dunkle Straße entlang, hinüber zu dem lächerlichen, hell erleuchteten Nachtwächterhaus nahe dem Stadttor. Irgendein Narr in der Hamburger Bürgerschaft hatte es zugelassen, das vergleichsweise winzige, mit Trommeln und Fahnen geschmückte Häuschen im Stil eines antiken Tempels errichten zu lassen. Es wurde von vier grotesk dicken Säulen geziert, in deren hohlen Innenräumen im Notfall sicher die ganze Mannschaft Platz gefunden hätte. Doch dieses architektonische Ungetüm beschäftigte Kettenburg im Augenblick weniger.
»Wer ist da?« wiederholte er barsch.
»Ik bün dat, Herr Polizeiaktuar«, ertönte im Dunkeln unter ihm eine leise Stimme. »Jochen Borchert!«
Herrgott. Auch Nachtwächter mussten doch irgendwann schlafen! Der Beamte bemühte sich vergeblich, die Finsternis dort unten mit seinen Blicken zu durchdringen.
»Hat das nicht bis morgen Zeit?« raunzte er zurück.
»Ik heff een Spuur!«
Eine Spur? Schlagartig erwachte Kettenburgs Aufmerksamkeit. »Warte einen Augenblick.«
Aufgeregt schloss der Polizeiaktuar die Fensterläden, verließ die Wohnung und eilte das Treppenhaus hinunter, um Borchert die Haustür zu öffnen. Wenige Minuten später waren die beiden zurück, und Borchert folgte dem Polizeibeamten schnaufend in die Wohnung.
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