Der Gärtner von Otschakow
wollte er sie ein bisschen näher betrachten, um sie im Sinn von Josips Theorien entweder den Gärtnern oder den Förstern zuzuordnen.
Im alten Haus reagierte niemand auf Igors Klingeln. Als er sich dem neuen, gemauerten zuwandte, entdeckte Igor Licht in den Fenstern im Erdgeschoss.
Die Tür zu dem Neubau stand offen. Draußen lagen große Plastiksäcke mit Bauschutt.
»He, Stepan, sind Sie da?«, rief Igor, bevor er eintrat.
»Ja, ja, ich komme!«, hörte er Stepans Stimme. »Komm nicht hier rein, es ist staubig!«
Um Stepans Hals hing eine Staubmaske, seine alten Trainingshosen mit den ausgebeulten Knien und das Matrosenshirt waren schmutzig-grau geworden.
Beim Heraustreten klopfte er mit der Handfläche auf sein [301] gestreiftes Shirt, und ringsum verteilte sich eine Staubwolke in der Abendluft. Dann klopfte er sich auch die Trainingshosen ab, die daraufhin ihre frühere dunkelblaue Farbe wieder annahmen.
»So, ich habe es ausgelesen!« Igor hielt Stepan das Buch hin. »Interessant… besonders das über die Gärtner und Förster…«
In Stepans Blick las Igor Hochachtung.
»Wie geht es deinen Rippen?«, fragte der Gärtner.
»Ich spüre sie kaum mehr.«
»Und du erinnerst dich immer noch nicht, wer auf dich eingestochen hat?« Auf Stepans Gesicht erschien kurz ein Lächeln.
»Doch«, sagte Igor leise. »Ein Förster… Sie haben mir doch versprochen, dass Sie mir zeigen, wie man mit dem Messer richtig zusticht…«
»Was gibt es da zu zeigen?!« Stepan zuckte die Achseln. »Wenn ihr direkt voreinander steht, musst du von unten nach oben stechen, oder geradeaus von deinem Bauch in seinen Bauch. Wenn er dir den Rücken zukehrt, musst du von oben nach unten stechen, in den Rücken oder den Hals… Aber das macht man nicht.«
Igor hob die Hand in Bauchhöhe, umklammerte ein imaginäres Messer und schnellte mit der Hand vor, so, dass sie links von Stepan haltmachte.
»So?«, fragte er.
»So«, antwortete Stepan.
»Und wo ist Aljona?« Igors Blick wanderte über die Schulter des Gärtners zu der hell erleuchteten Türöffnung.
»Sie ist ins Internetcafé gegangen, nach ihren Mails [302] sehen.« Stepan begleitete seine Worte mit einer vagen Geste der rechten Hand, als wollte er die Richtung andeuten.
»Soll ich Ihnen vielleicht helfen?« Igor wies mit dem Kinn auf die Schuttsäcke.
»Komm lieber morgen.« Stepan zog sich die Staubmaske vom Kopf und betrachtete sie. »Für heute reicht es!«
27
Die Gärtner und Förster verfolgten Igor bis in die Träume. Sie bereiteten sich eindeutig auf eine Schlacht vor, hatten Positionen beiderseits einer breiten Schneise bezogen, die einen dichten Wald von einem alten Garten trennte. Igor schien es, dass der Ausgang der näher rückenden Schlacht schon im Voraus entschieden war, denn Förster gab es zwei, dreimal mehr. Im Traum regte Igor sich auf, drehte sich von der linken auf die rechte Seite und fühlte, wie ganz leise, gleichsam schüchtern, die fast verheilte Wunde wieder zu schmerzen begann. Er legte sich auf den Bauch und drückte sein Gesicht ins Kissen. Er bekam nicht genug Luft und drehte den Kopf nach rechts, zum Fenster. Der Traum, der ein paar Meter weggerückt war, kehrte an seinen Platz zurück, auf die Leinwand von Igors Phantasie. Nur war der Ton verschwunden. Ton hatte es in diesem Traum kaum gegeben, die Bäume rauschten, Wind wehte, aber jetzt wurde es totenstill und deshalb beunruhigend.
Irgendwo außerhalb seines Traums ertönte ein Klopfen. Zuerst dumpf, als schlüge jemand auf einen Baum, dann klingender, wie mit einem Stöckchen gegen Glas.
[303] »Igor!«, hörte er gleichzeitig mit dem Knarren der Tür die Stimme seiner Mutter. »Da schleicht wer ums Haus! Ich habe Angst!«
Igor öffnete die Augen. Er brauchte eine Weile, um Traum und Wirklichkeit voneinander zu lösen.
Die Mutter stand im langen Nachthemd und barfuß vor seinem Bett.
Widerwillig erhob sich Igor, trat ans Fenster und lauschte. Das Klopfen setzte sich in unregelmäßigen Abständen fort, Scheiben klirrten. Igors Blick, der sich ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt hatte, blieb an einem dunklen Gegenstand hängen, der auf dem Weg zwischen der Haustür und dem Gartentörchen lag.
Und da klingelte es an der Tür. Das Klopfen war verstummt.
»Los, sieh nach!«, flüsterte die Mutter hastig. »Nur mach nicht auf! Sag, dass wir die Miliz rufen!«
Die Unruhe seiner Mutter hatte sich unweigerlich auf Igor übertragen. Außerdem war ihm kalt, wie er da in Boxershorts
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