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Der Gärtner von Otschakow

Der Gärtner von Otschakow

Titel: Der Gärtner von Otschakow Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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Gefühlen. Und hörte nun, als er den Flur betrat, nicht einmal den Fernseher.
    Er fand die Mutter in der Küche. Sie saß ruhig am Tisch, vor sich ein Glas mit hausgemachtem Wein. Die Augen nachdenklich, die Lippen ruhig.
    »Soll ich dir vielleicht Gesellschaft leisten?«, fragte Igor lächelnd.
    [295] »Mach nur«, stimmte Elena Andrejewna zu. »Ich hab mir hier schon den Kopf zermartert, so allein. Ich überlege und überlege…«
    »Was überlegst du denn?«, fragte Igor, während er sich auch Wein ins Glas füllte.
    »Stepan hat mir einen Antrag gemacht«, sagte sie und sah ihrem Sohn aufmerksam ins Gesicht.
    Igors Mund klappte auf.
    »Ja, ich bin auch ganz durcheinander«, gestand Elena Andrejewna. »Er ist natürlich ein anständiger und solider Mensch…«
    »Solide…?«, fragte Igor leicht ironisch und blickte zu der Waage auf dem Fensterbrett hinüber. »Übrigens hat er auch deiner Freundin einen Antrag gemacht! Sie ist gerade eben glücklich ins Lebensmittelgeschäft gelaufen!«
    Igor bereute seine Worte schon, als er merkte, wie das Gesicht seiner Mutter sich verändert hatte, wie bleich sie geworden war. Ihre Hände zitterten. Sie stand auf, lief in den Flur und warf sich den Mantel über.
    Die Haustür schlug zu.
    ›Jetzt gibt es was!‹, dachte Igor bei der Vorstellung, dass seine Mutter Olga nun eine Szene machte.
    Er griff nach dem Glas und trank einen Schluck.
    Ihm war nicht danach, die Rückkehr seiner Mutter abzuwarten. Igor nahm Josips Buch vom Fensterbrett und begab sich in sein Zimmer. Er zog den Nachttisch ans Bett, stellte die Lampe darauf, löschte das Deckenlicht und knipste die Lampe an. Legte sich mit dem Buch auf sein Bett und vertiefte sich in die halbverrückten Gedanken des Feindes der sowjetischen Volkskantine, Josip Sadownikow, wobei er doch [296] merkte, dass der handschriftliche Text immer wieder über seine, Igors, Ironie siegte und ihn dazu brachte, einige kulinarische Dinge mit einem anderen, ernsteren Blick zu betrachten.
    Auch ein Kapitel über Salz und Zucker fesselte Igors Aufmerksamkeit so, dass er gar nicht hörte, wie seine Mutter zurückkam, wie sie erbost den Mantel über einen Kleiderbügel warf. Der Mantel flog herunter und blieb auf dem Boden liegen.
    Die Mutter schaute in die Küche, dann öffnete sie die Tür zu Igors Zimmer. Sie kam zu ihm und hob die Hand, als wollte sie ihn mit ganzer Kraft ohrfeigen. Aber sie hielt sich zurück. Nur ihr Blick, erregt und zornig, verharrte auf dem Gesicht ihres Sohnes.
    »Du bist ein Dummkopf!«, sagte sie. »Wegen dir hab ich beinah einen Infarkt gekriegt!«
    »Was habe ich denn getan?«, begann Igor sich zu verteidigen. »Ich habe dir nur gesagt, was ich gehört habe!«
    »Was du gehört hast?!«, rief seine Mutter. »Er hat ihr ernsthaft etwas angetragen, das war kein ›Antrag‹! Hast du verstanden?«
    »Was ist der Unterschied?«, fragte Igor und erinnerte sich daran, dass er tatsächlich von Olga etwas von »ernsthaftem Antrag« gehört hatte.
    »Der Unterschied ist, dass es ums Geschäft ging, das war ein Angebot! Er hat sie gebeten, Geschäftsführerin seines Cafés zu werden! Und mir hat er einen richtigen Antrag gemacht, er will mich heiraten!«
    »Vielleicht kommt er auch zu mir noch mit irgendeinem ernsthaften Antrag?«, sagte Igor ironisch.
    [297] Seine Mutter drehte sich wortlos um, ging und schlug hinter sich die Tür zu.
    Igor zog die Lampe näher zu sich, an den äußersten Rand des Nachttischs, und klappte das gebundene Manuskript wieder auf. Die Seite mit der Nummer 48 war überschrieben mit: »Der Mensch und das Essen«.
    »Die Menschen lassen sich nach ihrer natürlichen Einstellung zur Welt und zum Essen in Gärtner und Förster einteilen. Die Gärtner erleben ihrer Natur nach die Welt als Garten, in dem man sich angemessen verhalten, Kaputtes reparieren, Bestehendes verschönern und alles in Ordnung halten muss. Die Förster lieben alles Wilde und eignen sich mehr zum Kaputtmachen und dazu, im Kaputten zu leben, als zu bauen und zu erneuern. Die Förster sind unbarmherziger, aber körperlich stärker und widerstandsfähiger. Sie sind der Meinung, dass man die Welt nicht ändern kann, die Gärtner dagegen wollen alles verbessern. Unter Männern gibt es mehr Förster und unter Frauen mehr Gärtnerinnen. Männer, die Gärtner sind, können hart arbeiten, sind aber meist nicht sehr hartnäckig in ihren Plänen und Überzeugungen. Förster und Gärtner haben ein unterschiedliches Verhältnis zum Essen. Das

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