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Der Gärtner von Otschakow

Der Gärtner von Otschakow

Titel: Der Gärtner von Otschakow Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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sich die rote Walja, in ihrer Angst vor Tschagin. Ihr schönes, aber verstörtes Gesicht. Die Verzweiflung in den großen Augen. Igor hatte in seinem Leben nicht oft Furcht auf einem Gesicht gesehen, nicht oft Furcht in einer Stimme gehört. Aber in letzter Zeit wurde es ein bisschen viel damit.
    [310] Und da hoben sich seine Lider, hochgezogen von einem unerwarteten Gedanken.
    ›Man muss ihn nach Otschakow schicken, ins Jahr 1957.‹ So jäh kam dieser Gedanke, dass Igor kalter Schweiß auf die Stirn trat. ›Genau! Er zieht die Uniform an, ich werde ihm alles erklären…‹
    Igor stemmte sich auf die Ellbogen und betrachtete den auf dem Boden schlafenden Koljan. Dann setzte er sich hin und stellte die Füße auf die Dielen.
    ›Er glaubt mir ja nicht.‹ Der Zweifel, der auf den rettenden Gedanken folgte, war schwach. ›Und was gibt es sonst für Optionen?‹ Igor lächelte schief und vertrieb den Zweifel. ›Keine anderen Optionen!‹
    Er stand auf und kauerte sich neben Koljans Kopf nieder. »Steh auf«, flüsterte er.
    Doch jetzt, dank Kognak und Wermutschnaps, schlief Koljan tief und fest.
    Igor rüttelte ihn an der Schulter, Koljan grunzte zur Antwort und drehte den Kopf auf die andere Seite.
    »Steh auf, sonst knipse ich das Licht an!«, sagte Igor fest und beharrlich.
    Koljan hob den Kopf ein wenig und drehte sich um.
    »Was?«, flüsterte er.
    »Steh auf, es gibt eine Lösung!«
    Koljan setzte sich auf der Matratze auf und lauschte Igor mit offenem Mund. Sein Kopf neigte sich zur linken Schulter. Die Augen schienen im nächsten Moment wieder zufallen zu wollen.
    »Ich werde dir alles erklären, alles erzählen. Du musst nach Otschakow… Dort findest du deinen Platz…«
    [311] »Das ist doch völliger Irrsinn«, flüsterte Koljan und seufzte schwer. »Und deswegen hast du mich geweckt?!«
    »Du musst es anders betrachten.« Der neue Gedanke brachte Energie und Überzeugung in Igors Stimme. »Sieh es so, du bist schon eine Leiche und du machst dich einfach auf ins Jenseits. Dort sind sie ja auch alle tot, ich meine, von unserem Standpunkt, von der Höhe des Jahres 2010 aus betrachtet. Sie sind alle dort unten…«
    »Mhm.« Unerwartet signalisierte Koljan mit einem Nicken, dass er bereit war, weiter zuzuhören.
    »Und du wechselst zu ihnen rüber und lebst bis… naja, an dein normales Lebensende. Mit keinem von hier wird dein Weg sich kreuzen, und wenn doch, dann wirst du es nicht wissen…«
    Koljan nickte wieder. »Rede weiter«, sagte er.
    »Hörst du denn zu?«, fragte Igor zweifelnd.
    »Ja. Wenn das die einzige Lösung ist, ja, dann… gehe ich da runter… Ob dieses Jenseits oder ein anderes… Nein, ich meine es ernst… Ich höre zu.« Er sah Igor an.
    »Du wirst mir glauben«, sagte Igor mit Überzeugung. »Ich gebe dir Fotos, du wirst diese Leute erkennen… Man wird dich abholen, dir helfen… Mach dich bereit!«
    »Wozu?«, fragte Koljan erschrocken.
    »In einer Stunde geht der erste Vorortzug nach Kiew. Von meinen Fotos wurden Großabzüge gemacht, ich habe noch nicht alle gesehen. Darauf schaust du dir die Stadt und die Leute an! Und mich mit ihnen, du glaubst es ja noch nicht!«
    »Ich glaube es«, sagte Koljan schwach, fast willenlos. »Ich fange an zu glauben… Und wenn sie mich dort umbringen?«
    [312] »In Otschakow?!«
    »Nein, in Kiew.«
    »Killer stehen so früh nicht auf. Für den Rückweg nehmen wir ein Taxi. Ich rufe jetzt den Fotografen an, er wird es mir nicht abschlagen! Da bin ich sicher!«
    Fünf Minuten lang tönte das Freizeichen aus Igors Handy. Ein paarmal gab das Telefon es zwischendurch selbst auf, dann wählte Igor von neuem die Nummer des Fotografen.
    »Wer ist da?«, erklang endlich dessen verschlafene Stimme.
    »Hier ist Igor, wegen der Ausstellung.«
    »Wie spät ist es?«
    »Entschuldigen Sie, es ist wirklich noch früh… Aber ich habe eine dringende Bitte… Sie haben doch die Abzüge gemacht?«
    »Die Großformate? Ja. Sie trocknen.«
    »Wohnen Sie weit vom Fotostudio entfernt?«
    »Nein, in der Nachbarstraße.«
    »Ich habe hier einen Freund, ich muss ihm dringend die Bilder zeigen, in anderthalb, zwei Stunden. Geht das?«
    »Jaaa…«, sagte gedehnt der Fotograf, dem es eindeutig noch schwerfiel zu folgen. »Das geht, nur…«
    »Wenn wir da sind, rufen wir an«, sagte Igor.
    »Gut«, konnte der Fotograf nur noch sagen.
    28
    Den betrunken-mürrischen Koljan aus dem Haus zu bekommen erwies sich als schwierig. Igor versuchte es mit Bitten und Argumenten. Am

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