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Der Gärtner von Otschakow

Der Gärtner von Otschakow

Titel: Der Gärtner von Otschakow Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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mit Fingerspitzen durchblätterte. Das Spiel mit dem Geld gefiel ihm so, dass er auch die sowjetischen Rubel herausholte, beide Packen. Natürlich waren die sowjetischen Hunderter größer, beeindruckender als die ukrainischen Zweihunderter. Aber auch ihr Land – die U d SSR – war ja größer gewesen als die heutige Ukraine. Würden Scheine proportional zur Größe ihres Landes gedruckt, dann hätten wohl mehrere Griwni-Päckchen in Igors Handfläche gepasst, nicht nur das eine. Die Vorstellung belustigte Igor. Und in den Fingern fühlten sich die sowjetischen [116] Hunderter auch angenehmer an. Ihre Rauhheit kam einem beeindruckender und echter vor.
    Am frühen Abend, bevor er zum Bahnhof fuhr, meldete Igor sich nochmals bei Koljan.
    »Hör zu! Ich fahre heute für einen Tag nach Lwow. Komm zum Zug, dann erzähle ich dir was, das haut dich um!«
    »Ich kann nicht«, antwortete sein Freund, der Computermann. »Mich haben hier die Chefs gebeten, einen Kunden zu hacken. Bis Mitternacht knacke ich wohl seine Mails… Er will einen ziemlich großen Kredit von uns, mit falschen Papieren… Treffen wir uns nach Lwow! Übrigens hat ein neuer Club aufgemacht! Wir könnten ihn ausprobieren!«
    »Okay.« Igors Stimme war traurig geworden. »Probieren wir ihn aus! Bis dann!«
    Nach einer fast schlaflosen Nacht im Zug und nachdem er sich, um munter zu werden, in der Toilette des Waggons Wasser in die Augen gespritzt hatte, trat Igor, von keinerlei Gepäck beschwert, auf den Bahnsteig des Bahnhofs von Lwow hinaus.
    Ringsum eilten Menschen hin und her. Bündel, Koffer und Rucksäcke schossen vorbei. Der Bahnhofsvorplatz erstaunte einen mit seinen bescheidenen Ausmaßen. Vor Igors Augen tauchte eine im Vergleich zu den Kiewern magere kleine Straßenbahn auf und entfernte sich bimmelnd über die gerade Straße, die offenbar Richtung Zentrum führte.
    » Wollen Sie vielleicht ein Taxi? Ist nicht teuer!«, fragte ihn ein kleiner, munterer alter Mann auf Ukrainisch.
    Igor zog Stepans Brief aus der Jackentasche und sah auf die Adresse.
    [117] »Wie teuer wird es in die Grüne Straße?«, fragte er auf Russisch.
    »So vierzig Griwni, wenn’s recht ist.«
    »Und wenn’s nicht recht ist?«, gab Igor lächelnd und ebenfalls auf Ukrainisch zurück.
    »Wenn’s nicht recht ist, dann fünfunddreißig.«
    Der alte Lada ächzte und knarrte. Von Zeit zu Zeit schleuderte es Igor hin und her, der Wagen ratterte über Kopfsteinpflaster und kreuzte immer wieder Straßenbahngleise. Schöne alte Häuschen blieben hinter ihnen zurück. Jetzt standen längs der gewundenen Straße kleine Wohnblocks aus der Chruschtschow-Ära, und bald verschwanden auch sie. Zu beiden Seiten erstreckten sich nun Zäune, mal von Fabriken, mal von Lagerhallen, und dahinter tauchte ein gepflegtes Viertel mit Einfamilienhäusern auf.
    »Nummer 271«, soufflierte Igor dem Fahrer.
    Das Haus sah nicht reich aus, länglich, einstöckig, für zwei Familien gebaut. Drei kleine Stufen führten links zu einer grünen Holztür, die gleichen Stufen, rechts, zu einer blauen Tür.
    Igor trat zu der blauen Tür. Da er keinen Klingelknopf fand, klopfte er dreimal.
    Eine junge, eher kleine, etwa dreißigjährige Frau öffnete, in Jeans und blauem Pullover. Sie sah ihn fragend aus braunen Augen an.
    »Sind Sie Aljona Sadownikowa?«, fragte Igor schüchtern.
    »Ja, bin ich.«
    »Ich habe einen Brief für Sie. Von Ihrem Vater.«
    Aljona erstarrte kurz. Durch ihren Blick huschte Besorgnis. »Kommen Sie herein!«
    [118] Sie führte ihn in ein ordentlich und bescheiden möbliertes Zimmer und wies ihn auf das Sofa. Sie selbst trat, nachdem sie von Igor den Umschlag entgegengenommen hatte, ans Fenster, schob den Vorhang zur Seite und las das mit kleiner Schrift vollgeschriebene Blatt ein paarmal durch. Dann ließ sie die Hand mit dem Brief sinken und seufzte erleichtert.
    »Ich dachte schon, es wäre etwas passiert«, sagte sie. »Hat er gebeten, dass ich gleich antworte?« Nachdenklich betrachtete Aljona ihren Gast.
    »Nein. Er hat gar nichts gesagt. Ich sollte nur den Brief überbringen…«
    »Vertraut er denn der Post nicht?!«
    Sie ging aus dem Zimmer, kehrte nach kurzer Zeit zurück und hielt ihm ein doppelt gefaltetes, aus einem Heft gerissenes Blatt Papier hin.
    »Für ihn«, sagte sie. »Wie geht es ihm? Ist er gesund?«
    Igor nickte.
    »Haben Sie vielleicht Fotos dabei?«
    »Fotos?«, wiederholte Igor verwundert. »Nein…«
    »Und warum hat er gerade Sie gebeten zu fahren?«, fragte

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