Der Gärtner von Otschakow
gleichsam davon, dass Stepan wiederkommen würde und die Wertsachen, oder zumindest irgendein Teil davon, noch immer dort drinnen waren.
Morgens leuchtete unerwartet die Sonne vorm Fenster. Irgendwelche noch nicht in den Süden abgeflogenen Vögel sangen. Die Mutter ging im Haus herum, und der hölzerne Boden knarrte unter ihren Füßen. Der Morgen war erfüllt von Leben und Frische. Igor stieg aus dem Bett. Und im [113] selben Moment hörte er ein vertrautes Husten, vom Vorgarten oder der Straße her. Er spähte aus dem Fenster und sah, wie Stepan auf das Haus zuging. Er trug eine neue, billige chinesische Jacke von dunkelgrüner Farbe, über den Schultern seinen halbleeren Leinenrucksack.
Stepan bemerkte Igor hinterm Fenster nicht. Er ging, das Katjuscha -Liedchen pfeifend, sofort hinters Haus zu seinem Schuppen.
Igor zog sich an, setzte sich an den Tisch in der Küche und wartete auf Tee und die Reste der Buchweizengrütze zum Frühstück.
»Schade, dass du gestern nicht mitgekommen bist.« Elena Andrejewna sah ihren Sohn fragend an. »Wir saßen so fein mit Oletschka zusammen! Sie hat Stachelbeerkuchen gebacken, danach leckst du dir die Finger! Und hat auch für dich welchen mitgegeben! Er liegt im Kühlschrank.«
»Stepan ist wieder da.« Igor wies mit dem Kopf zum Fenster, als stünde der Gärtner dort, vor dem Haus.
Elena Andrejewna verlor den Faden und verstummte.
»Wärme ihm etwas auf, ich bringe es ihm«, bat Igor.
Als er mit dem Teller Buchweizengrütze schon an der Schuppentür stand, horchte Igor ein wenig. Doch hinter der nur angelehnten Tür war es still, als wäre dort gar keiner.
Igor klopfte einmal an und trat sofort ein. Im selben Moment traf ihn Stepans Blick.
Der Gärtner stand im T-Shirt vor dem alten quadratischen Spiegel, der auf dem oberen Regalbrett lehnte. Seine Hand war am Kinn erstarrt, als wäre er gerade mit ihr über Kinn und Wangen gefahren, um zu entscheiden, ob er sich rasieren sollte oder nicht.
[114] »Guten Morgen.« Igor sah sich um und überlegte, wohin er seinen Teller mit der Buchweizengrütze stellen könnte.
»Ein guter, ein guter.« Stepan nickte. »Hätte auch ein schlechter sein können…«
Plötzlich entdeckte Igor, dass das linke Handgelenk des Gärtners verbunden war.
»Da, stell es aufs Regal.« Stepan wies dorthin. »Und mach einen Tee. Trinken wir ihn in eurer Küche.«
Igor kehrte ins Haus zurück und kochte Tee.
Stepan kam nach etwa zehn Minuten. Seine Wangen waren glattrasiert, in den Händen hielt er den leeren Teller. Er wusch ihn auch gleich selbst aus und setzte sich erst dann an den Tisch.
Während sie Tee tranken, schwieg er. Und danach bedeutete er Igor mit einer Kopfbewegung, ihm nach draußen und weiter zu seiner provisorischen Behausung zu folgen. Vor den Augen des verblüfften Igor schüttete er dort aus dem Rucksack bankfrische Bündel mit Zweihundertgriwni-Scheinen auf sein Bett.
»Da«, sagte er und seufzte. »Jetzt kann man anfangen zu leben. Ganz von vorn. Nur schade, dass ich nicht mehr achtzehn bin…«
Er versank in Nachdenken. Dann nahm er ein Päckchen, wog es in der Hand und streckte es Igor hin.
»Hier. Das ist für dich, für dein Motorrad, und überhaupt für deine Hilfe…«
»Ist das viel?«, fragte Igor ein wenig angespannt.
»Wie man’s nimmt, vielleicht kriegst du noch mehr, vielleicht ist da aber auch schon ein Vorschuss drin«, gab der Gärtner lächelnd zurück.
[115] »Worauf?«
»Ach, auf vieles. Ich habe eine Tochter. Wohnt in Lwow. Erst mal fährst du zu ihr, bringst ihr einen Brief. Schaust dir an, mit wem und wie sie so lebt. Erzählst ihr etwas Gutes von mir. Und dann sehen wir weiter!«
Igor freute sich über das, was er da hörte, zeigte es aber nicht. Er dachte an die beiden sowjetischen Rubelpäckchen in den Taschen der Milizhose. ›Reich sein, das ist, wenn man einen Packen Geld in der Hosentasche hat?‹, überlegte er, während er das Päckchen Zweihunderter in die Tasche seines Trainingsanzugs schob.
»Wann soll ich fahren?«, fragte er und hob den Blick zu dem Gärtner.
»Fahr doch heute. Viele Züge gehen nach Lwow. Du kaufst in Kiew am Bahnhof eine Karte, eine Nacht hin, die nächste Nacht zurück, übermorgen bist du wieder zu Hause.«
Im Haus zählte Igor lange die Scheine nach. Nicht, um sie wirklich zu zählen, einfach so, aus Neugier. Noch nie hatte Igor so viel Geld in den Händen gehalten! Und die Banknoten waren neu und knisternd. Sie schienen zu flüstern, wenn Igor sie
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