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Der Gärtner von Otschakow

Der Gärtner von Otschakow

Titel: Der Gärtner von Otschakow Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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eindeutig auch seinen Computerfreund ergriffen.
    »Nein, er wusste es nicht.«
    Eine halbe Stunde später verabschiedeten sie sich.
    »He, vergiss nicht, dass ich in zwei Wochen Geburtstag habe! Ich erwarte dich mit einem Geschenk!«, rief Koljan seinem Freund hinterher.
    »Erinner mich daran, dann komme ich!«, versprach der und drehte sich ein letztes Mal zu ihm um.
    Bevor er in den Kleinbus stieg, kaufte Igor noch ein Darnitza-Brot.
    Im Kleinbus sah er immer wieder auf den Ausdruck der im Computer restaurierten Tätowierung. Die Phantasie wühlte seine Gedanken auf, und nicht einmal Radio Chanson konnte ihn jetzt von diesen Wörtern und dem Anker ablenken. Nach Kiew war er mit einem Rätsel gefahren, nach Irpen kehrte er mit einem anderen zurück. Genauer, mit demselben Rätsel, das aber jetzt konkreter und deshalb interessanter und spannender geworden war.
    Vom Gartentor ging Igor sofort hinters Haus, zum Schuppen. Stepan saß auf einem Hocker an der Wand, saß da und las ein Buch.
    »Was lesen wir denn?«, erkundigte sich Igor.
    [18] »Nur so, über den Krieg«, antwortete Stepan und stand auf.
    Das Buch klappte er zu und legte es mit dem Umschlag nach unten auf den Hocker, als wollte er nicht, dass Igor Titel und Autor erfuhr.
    »Ich habe Ihre Tätowierung entziffert!«, platzte Igor kindlich stolz heraus.
    »Na sowas!«, sagte der Gärtner erstaunt. »Und was steht da?«
    Igor reichte ihm das Blatt Papier.
    »Otschakow 1957, Jefim Tschagins Haus«, las Stepan langsam vor und erstarrte. Sein Blick blieb an dem Ausdruck hängen.
    Igor stand da und wartete auf irgendeine Reaktion des Gärtners.
    »Geh du mal lieber«, sagte Stepan unerwartet kühl zu ihm. »Ich muss ein wenig allein sein! Nachdenken!«
    »Ein Denker!«, brummte Igor kaum hörbar und machte kehrt. Er ging ins Haus, legte das Paket mit dem Brot in die Küche und warf einen Blick auf die alte Waage mit den zwei Messingschalen, die auf dem Fensterbrett stand. Die eine Waagschale war gefüllt mit kleinen Gewichten, vom leichten Zwanzig-Gramm-Stück bis zum 2-Kilo-Klotz. Auf der oben schwebenden zweiten Waagschale lag das Abrechnungsbüchlein für die Stromzahlungen, ebenfalls von einem Gewicht beschwert, als könnte das Büchlein sonst fortfliegen. Diese Waage war eine Art privater Arbeitstisch der Mutter. Auf die Waage legte sie alle Papiere und Dokumente, die sie gerade brauchte, zudem, wenn sie kochte, die Lebensmittel, obwohl sie bestimmt auch ohne Abwiegen exakt hundert [19] Gramm von der Butter abschneiden oder zweihundert Gramm Mehl in die Schüssel schütten konnte.
    Igor goss sich ein Glas Milch ein und setzte sich ins Wohnzimmer vor den Fernseher. Im »Neuen Kanal« wurde gerade ein Krimi gezeigt. Gewöhnlich hätte Igor den Film bis zu Ende angesehen, aber heute schien alles ihm uninteressant zu sein. Außer der geheimnisvollen Tätowierung. Nachdem er sich eine Viertelstunde vor dem Fernseher herumgedrückt hatte, zog Igor die Schuhe wieder an und ging nach draußen. Er lief zum Schuppen und spähte hinein. Doch Stepan war nicht da. Stepan war auch nicht im Garten und nicht beim Gemüse.
    Igor trat ein, um nachzusehen, ob etwa die Sachen des Gärtners verschwunden waren. Aber sein Rucksack hing am Haken über dem Bett, und seine Kleider lagen, gefaltet wie aus der Wäscherei, auf dem alten Holzregal neben dem Hobel und sonstigem Tischlerwerkzeug.
    3
    Abends, vor dem Schlafengehen, sah Igor nochmals im Schuppen nach, in der Hoffnung, Stepan wäre zurückgekehrt. Der Gärtner war jedoch noch immer nicht da.
    Beunruhigt über sein Verschwinden legte Igor sich ins Bett und konnte lange nicht einschlafen. Er wälzte sich von einer Seite auf die andere und schloss die Augen, aber die Aufregung der Fahrt nach Kiew oder eine andere dunkle Unruhe hielt seinen Körper in Spannung. Ein paarmal hörte er von draußen Geräusche wie Schritte. Dann stand er auf [20] und trat vor die Haustür, aber Stille erwartete ihn dort. Eine Stille, die angefüllt war mit den gewöhnlichen nächtlichen Klängen und Geräuschen. Irgendwo oben am dunklen Himmel flog ein Flugzeug. Irgendwo schrie ein betrunkener Obdachloser von seiner Einsamkeit. Irgendwo schoss mit wahnsinniger Geschwindigkeit ein dicker Wagen durch Irpen.
    Um nicht mehr abgelenkt zu werden, schloss Igor fest die Lüftungsklappe im Fenster, und schließlich überfiel ihn der Schlaf.
    Am Morgen gesellte sich zu seinem nach der kurzen Nacht keineswegs munteren Zustand noch Kopfweh. Nicht stark, aber

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