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Der Gärtner von Otschakow

Der Gärtner von Otschakow

Titel: Der Gärtner von Otschakow Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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Sowjetfeind?«, staunte Igor. Das passte überhaupt nicht zu jenem Josip, den Igor mehrmals in Otschakow beobachtet hatte.
    »Nein«, sagte Stepan. »Man sieht, dass du in das Buch vom Essen nur reingeschaut und nicht richtig gelesen hast! Sie haben ihn wegen Verleumdung des sowjetischen Essens eingesperrt. Er war gegen die Volkskantinen, sagte laut, dort [286] werde ›feindliches Essen‹ gekocht, und ›feindliches Essen‹ versklave das Volk, mache es willenlos und passiv. Im Lager hat er über das Lageressen geschimpft und saß dafür ständig in Isolierhaft. Sie dachten, er wiegelt die Häftlinge auf. Und über das Lageressen waren die Häftlinge auch einer Meinung mit ihm. Dann hat man ihn in die Psychiatrie gesteckt, dort kam er erst nach Stalins Tod heraus. Jene Häftlinge, die damals mit ihm saßen, haben ihm später geholfen…«
    Stepan verstummte und seufzte tief.
    »Kann ich sein Buch vielleicht noch mal haben?« Igor sah den Gärtner an.
    »Gehen wir«, sagte Stepan und ging los, Richtung Schuppen.
    Dort knipste er das Licht an und übergab Igor das gebundene Manuskript. Auf Stepans Bett sah Igor wieder ein Buch, das ihm bekannt vorkam. Diesmal mit dem Titel nach oben: Restaurantmarketing.
    »Also, gute Nacht«, sagte er beim Hinausgehen.
    Das Gartentor quietschte, Igor drehte sich an der Haustür um und sah Nachbarin Olga verschwinden. Im Küchenfenster brannte noch Licht.
    Seine Mutter wollte es schon ausmachen, als Igor mit dem Manuskript in der Hand eintrat.
    »Ich setze mich ein bisschen her und lese«, sagte er.
    Er setzte sich an den Tisch, schlug das handgemachte Buch auf, blätterte es von neuem durch, überflog die Rezepte. Und blieb bei einer schülerhaft ordentlich vollgeschriebenen Seite hängen.
    »Feindliches Essen«, las er, »versklavt das Volk. Nehmen [287] wir einen Fischer: Er füttert die Fische vor dem Fang und gewöhnt sie an den Ort, an dem sie der Tod erwartet. So füttern die Feinde des Volkes auch den Menschen und gewöhnen ihn an das Essen, von dem er abhängig wird, wie der Fisch vor dem Fang. Dann zwingen sie den mit diesem Essen gefütterten Menschen, drei Schichten in einer zu arbeiten! Aber zuerst kamen die Feinde des freien Menschen auf die Idee, auf das Geld als Bezahlung für die Arbeit zu verzichten und den Menschen an die Entlohnung mit Nahrung zu gewöhnen. In den Kolchosen zahlten sie den Lohn in Naturalien aus – und damit begann das Experiment der Gewöhnung des Volkes an einen Futterplatz…«
    »Aber er ist wirklich ein Dissident!«, flüsterte Igor erstaunt und beugte sich ein wenig tiefer über das Manuskript.
    Die sorgfältig zu Papier gebrachten Gedanken und Überlegungen des toten Josip ließen ihn die halbe Nacht nicht los. Erst als Igor gegen vier Uhr morgens der Kopf zu schmerzen begann, schloss er das Buch und legte sich schlafen. Aber der Schlaf überkam den erschöpften Körper nicht gleich.
    ›Spinner oder nicht?‹ Er lag im Dunkeln auf seiner Liege und lauschte dem gleichmäßigen Atem seiner schlafenden Mutter. Dabei dachte er über das Gelesene nach. Die Gedanken wanderten allmählich weiter zu Stepan. Wieder hallte es in seinem Kopf: Spinner oder nicht?, nur betraf die Frage jetzt schon den Gärtner, nicht dessen Vater. Und das Buch fiel ihm ein, das auf Stepans Bett gelegen hatte. Restaurantmarketing. ›Weiß er wohl, was das Wort ›Marketing‹ heißt?‹, überlegte Igor und lächelte, aber nur kurz. Das Buch vom Essen nahm sich neben dem Restaurantmarketing gar zu harmonisch aus.
    [288] »Na sowas!«, flüsterte Igor, verblüfft über seine Entdeckung. »Nein, er ist kein Spinner… Und seine Pläne, von denen am Tisch die Rede war, werden jetzt, scheint mir, auch klarer!«
    Am nächsten Morgen erschien Stepan im Haus, er steckte wieder in seinem Anzug. Die Krawatte hatte er sich diesmal allerdings selbst gebunden, ohne Hilfe von Elena Andrejewna. Er stand im Wohnzimmer und trieb mit seiner bloßen Anwesenheit die Übrigen an, sich schneller fertig zu machen für die Besichtigung seiner zwei Häuser.
    Am Gartentor von Nachbarin Olga verloren sie nochmals zehn Minuten. Endlich bewegte die Delegation sich in der kompletten Besetzung vom Vortag wieder in Richtung Busbahnhof. Unterwegs liefen Olga und Elena Andrejewna schnell ins Lebensmittelgeschäft und kauften jede ein Laib Brot. »Man darf ein neues Heim beim ersten Mal nicht ohne Brot betreten«, belehrte Elena Andrejewna Igor.
    Sie bogen in die Teliha-Straße und gingen noch

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