Der Gamma-Stoff
unternehmen. Wir haben Sie in der Hand, Sibert – mit allen Maßen, auf Film, Papier und Kunststoff. Wo immer Sie sich auch verstecken, wir werden Sie herausholen …‹«
»Wenn Sie mich finden, Locke«, sagte Sibert zum Spiegel.
»Und für den Augenblick bin ich Ihnen entwischt!«
Er hastete die Feuertreppe zum Main-Street-Ausgang hinunter, ging durch die Abteilungen im Erdgeschoß, fuhr mit dem Paternoster nach oben, rannte die Treppe hinunter und verließ das Haus durch einen Seitenausgang in der Twelfth Street. Als ein Omnibus gerade anfuhr, zwängte sich Sibert zwischen den zuklappenden Türen ins Innere. Zwei Kilometer nach dem Rathaus stieg er aus, lief durch zwei Gassen und stieg in ein Taxi.
»Nach Westen. Ich sag Ihnen schon, wenn Sie halten sollen«, keuchte er.
Der Taxifahrer warf ihm einen scharfen Blick durch den Rückspiegel zu, kehrte um und fuhr in westlicher Richtung. Sibert verglich die Gesichtszüge des Mannes mit dem Bild in der Plastiktasche des Rücksitzes. Er konnte Übereinstimmung feststellen, wenn er auch nicht wußte, wieviel Sicherheit ihm das gab.
Als er bezahlt hatte, wartete er, bis das Taxi verschwunden war, bevor er sich nach Norden wandte. Die Straße war verlassen, der Himmel klar. Er beschleunigte seine Schritte und spürte die krankhafte Erregung in sich wachsen, als die Wohnsilos der Quality Towers vor ihm emporragten.
Die Gabelung, wo der Kansas River in den Missouri mündete, konnte er nicht sehen, weil der Rauch von den Industriewerken einen dichten Nebelschleier über das Tal legte.
In den Anfangszeiten war die Anhöhe des Quality Hill eine gute Wohngegend gewesen, aber sie hatte den Kreislauf von Geburt und Tod zweimal durchlaufen. Je mehr die Stadt sich ausgebreitet hatte, desto stärker waren die Wohnhäuser hier zu Slums herabgesunken. Man hatte sie abgerissen, um die Quality Towers zu errichten, aber fünfzig Jahre Vernachlässigung, Mietsenkung und gedankenlose Mieter hatten ihr Werk getan.
Es war Zeit, neu zu beginnen, aber es würde keinen Anfang mehr geben. Dichter Smog drang vom Tal herauf, und Sibert hustete heftig.
Das Geld verließ die Stadt. Diejenigen, die es sich leisten konnten, suchten saubere, gesündere Luft und das bessere Leben in den Vororten auf und überließen die Stadt denen, die nicht entfliehen konnten. Sie sollten miteinander zugrunde gehen.
Sibert drehte sich vor dem Eingang um und blickte zurück. Niemand war zu sehen. Sein Blick glitt hinüber zu der Erhebung über der Autostraße. Nur hier wurde gebaut; so war es seit Jahren schon.
Hospital Hill entwickelte sich zu einem riesigen Komplex. Inmitten des allgemeinen Verfalls zeigte es sich neu und schimmernd. Es griff hinaus, verschlang die grauen Slums, verwandelte sie in schöne, glänzende Aluminium- und Glaswände, in Märkte der Gesundheit und des Lebens.
Es würde nie aufhören, bis die ganze Stadt ein einziges Krankenhaus war. Das Leben bedeutete alles. Nichts sonst hatte Wert. Die Menschen würden der Medizin und den Krankenhäusern nie Hindernisse in den Weg legen, gleichgültig, was sonst verlorengehen mochte. Und doch wurde es trotz der gestifteten Gelder und der großen Fortschritte, die die Wissenschaft von der Gesundheit und vom Leben im letzten Jahrhundert erzielt hatten, immer teurer, so gesund zu bleiben, wie man es zu sein wünschte. Vielleicht würde das eines Tages mehr kosten, als ein Mensch zu verdienen vermochte. Deswegen war man hinter Cartwrights Kindern her – deswegen jagte man diese wunderbaren Wesen mit dem unstillbaren Durst nach Leben, mit der unerträglichen Furcht vor dem Tode.
Die Menschen sind wie Kinder, dachte Sibert, sie haben Angst vor der langen Dunkelheit.
Wir alle.
Er schauderte und verschwand dann im Haus.
Der Aufzug war, wie üblich, defekt. Sibert stieg schnell die Treppen hinauf. Im vierten Stock blieb er stehen, um Atem zu holen, zufrieden, daß er nicht weiter hinauf mußte. Treppensteigen war eine gefährliche, herzbelastende Tätigkeit, selbst für einen jungen Mann.
Was ihm das Herz im Leibe umzudrehen schien, war der Anblick der Frau vor einer Tür in der Nähe und der lange, weiße Umschlag, den sie in der Hand hielt.
Eine Sekunde später hatte Sibert sie erreicht und den Briefumschlag abgenommen.
»Der Brief sollte doch erst um sechs abgeliefert werden, Mrs. Gentry«, rügte er. »Und jetzt ist es erst fünf.«
»Ich muß mich um das ganze Haus kümmern«, beschwerte sie sich. »Ich habe mehr zu tun, als den
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