Der Gamma-Stoff
dem Abgleiten ins Chaos zu entrinnen scheint. Post wurde geöffnet, gestempelt, zusammengeheftet und auf Förderbänder gebracht. Zeitungen wurden von Lesemaschinen überflogen und dann Zeile für Zeile von menschlichen Lesern überprüft. Auf Rollschuhen rasten Boten zwischen den langen Reihen von Schreibtischen dahin, Prüfer strichen mit Blaustift an, hefteten Unterlagen aneinander und sprachen in die automatischen Schreibmaschinen. Techniker stanzten Löcher in leere Karten und lenkten Elektronen an Speicherstellen.
Edwin Sibert schlängelte sich aufgeregt zwischen den Schreibtischen hindurch, als sei er unterwegs zu einem Stelldichein mit der begehrenswertesten Frau der ganzen Welt. Der Prüfsaal bot ihm nichts Neues; er hatte dort sechs Monate zugebracht, ohne auch nur das geringste zu lernen. Er verschwendete keinen Blick, als er die Treppe hinter dem wie ein Wachtturm über einem Gefängnishof emporragenden Bürotrakt hinaufstieg.
Im Vorzimmer standen an allen vier Wänden abgeschlossene Karteikästen; ihr Inhalt war bedeutungslos. Ein farbloser, älterer Registraturangestellter kramte in einer der Schubladen.
»Tag, Sanders«, sagte Sibert.
Der Arbeitsplatz an der zum inneren Büro führenden Tür war mit einem Vermittlungsschrank, einem Codiergerät, einem automatischen Bandgerät und einer hübschen dunkelhaarigen Sekretärin ausgestattet. Ihre Augen hatten sich geweitet, als Sibert eingetreten war.
»Tag, Liz«, sagte er. »Ist Locke da?« Er ging an ihr vorbei zur Tür, ohne die Antwort abzuwarten.
»Nicht, Ed –«, rief sie und sprang auf. »Mr. Locke wird –«
»– sehr wütend sein, wenn er meine Neuigkeiten nicht sofort erfährt«, sprach Sibert den Satz zu Ende. »Ich habe den Schlüssel gefunden, Liz. Verstanden?« Er berührte mit den Fingern die glatte Wölbung ihrer Kehle.
Sie ergriff seine Hand, preßte sie für einen Augenblick an ihre Wange.
»Oh, Ed!« stammelte sie. »Ich –«
»Schön brav sein, Liz«, sagte er fröhlich, und seine blauen Augen lächelten. »Vielleicht – ein bißchen später – wer weiß?«
Aber es gab kein ›später‹ – das wußten sie beide. Er hatte einen Monat mit ihr vergeudet, bevor er überzeugt davon war, daß sie nichts wußte. Er zog seine Hand zurück, öffnete die Tür und betrat das Arbeitszimmer.
Die Wand hinter Locke bestand aus Einsichtglas. Von hier aus konnte der Direktor den Prüfsaal unmittelbar oder auch nach Wunsch indirekt die anderen Zimmer und Büros des fensterlosen Gebäudes überblicken. Locke sprach über sein Privattelefon.
»Geduld ist unser größter Aktivposten«, sagte er gerade. »Schließlich hat Ponce de Leon …«
Sibert drehte schnell den Kopf, aber er sah nur für den Bruchteil einer Sekunde ein Gesicht, in dem durch das hohe Alter das Geschlecht nicht mehr zu erkennen war. Es war runzlig und grau und tot, bis auf die Augen, in denen immer noch Leben und Begierde brannten.
»Unterbrechung«, sagte Locke. »Rufe zurück.« Der Bildschirm an der Wand gegenüber verdunkelte sich, als er die Lehne seines Sessels berührte.
»Sibert«, sagte er, »Sie sind entlassen.«
Locke war selbst kein junger Mann mehr, dachte Sibert. Er mußte neunzig sein, obwohl er gesund wirkte. Er hatte seinen Körper leistungsfähig erhalten; Geriatrie und Hormoninjektionen hatten seine Schultern breit, seine Muskeln fest und elastisch erhalten. Aber sie vermochten sein altes Herz, seine alternden Arterien nicht zu verjüngen.
»Gut«, sagte Sibert, »dann werden Sie ja an meiner Information nicht mehr interessiert sein –«
»Vielleicht war ich voreilig«, sagte Locke. Die Worte kamen ihm schwer über die Lippen. »Wenn Ihre Information wichtig ist, überlege ich mir es vielleicht noch einmal.«
»Und eine Prämie?« setzte Sibert nach.
»Vielleicht«, knurrte Locke. »Was ist so welterschütternd, daß es nicht auf dem üblichen Weg weitergegeben werden kann?«
Sibert betrachtete Lockes Gesicht. Es hatte nicht ein ganzes Leben im Büro hinter sich. An den Augen und schräg über eine Wange zeigten sich Narben; die Nase war mindestens einmal gebrochen. Locke war ein alter Bär. Man mußte vorsichtig sein, dachte Sibert, durfte ihn nicht zu sehr reizen.
»Ich glaube, daß ich eines von Marshal Cartwrights Kindern gefunden habe.«
Lockes Gesicht verzerrte sich für einen Augenblick, bevor er die Beherrschung wiedergewann.
»Wo? Welchen Namen benützt er? Was ist er –«
»Nur langsam«, sagte Sibert gelassen. Er ließ sich
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