Der Gamma-Stoff
Tränen.
»Ich kann mir nicht helfen«, sagte Bone leise und schlug mit der Faust an die holzgetäfelte Wand. »Ich kann nur weinen. Was hat sie getötet? Das dort oben auf dem Hügel hat sie getötet. Die Ärzte haben sie getötet, die Medizin hat sie getötet!«
Flowers schaute hinüber zu dem hellen Hügel, der sich wie eine Insel aus dem nächtlichen Meer erhob. Die rötlichen, schräg einfallenden Strahlen ließen die massiven Mauern und zum Himmel emporragenden Türme von Hospital Hill aufschimmern.
»Ihr habt sie getötet«, sagte Bone. »Mit eurem Gerede von krebserregenden Stoffen und den Gefahren des Stadtlebens. ›Verlaßt die Stadt‹, habt ihr gesagt, und der Reichtum zog ab, fuhr aufs Land hinaus, baute seine automatischen Fabriken und ließ uns ohne Blut zurück, ließ die Leukämie unsere Venen aufzehren. Und die Krankenhäuser wuchsen, fraßen Straßenblock um Straßenblock auf, nahmen ein Viertel der Stadt von den Steuerregistern. Die Medizin hat sie auf dem Gewissen.«
»Die Medizin hat nur die Tatsachen präsentiert. Die Öffentlichkeit zog die gewünschten Konsequenzen«, erklärte Flowers steif.
Bone schlug sich mit der Faust gegen die Stirn. »Sie haben recht! Wir haben es selbst getan. Ich wollte, daß Sie das sehen. Wir haben uns den Ärzten ausgeliefert und gebrüllt: Rettet uns! Macht uns leben! Und ihr habt nicht gefragt: ›Wie leben? Warum?‹
Nehmt diese Tabletten, habt ihr gesagt, und wir haben sie geschluckt. Ihr braucht Röntgenaufnahmen, habt ihr gesagt, radioaktives Jod, Antibiotika und Mittel für dieses und für jenes, und wir haben sie zusammen mit unseren tonischen Säften und unseren Vitaminen genommen.« Er begann zu psalmodieren. »Unsere täglichen Vitamine gebt uns heute … Mit Hilfe der Mikrochirurgie können wir euer Leben um ein Jahr verlängern, habt ihr gesagt; mit Blutbänken um weitere sechs Monate, mit Organ- und Arterienbänken einen Monat, eine Woche. Wir haben sie euch aufgezwungen, weil wir Angst vor dem Sterben hatten. Und wie nennt ihr diese übersteigerte Angst vor Krankheit und Tod? Gebt ihr einen Namen. Hypochondrie!
Wenn Sie mich einen Hypochonder nennen«, fuhr Bone fort, »sagen Sie nur, daß ich ein Produkt meiner Umwelt bin. Enger als Sie, als jeder andere, bin ich mit meiner Stadt verbunden.
Wir sterben gemeinsam, die Gesellschaft und ich, und wir werden sterben, während wir euch zurufen: Rettet uns! Rettet uns, oder wir sterben!«
»Ich kann nichts tun«, wiederholte Flowers. »Begreifen Sie das nicht?«
Bone nahm das überraschend ruhig auf, als er seine dunklen Augen Flowers zuwandte.
»Oh, Sie werden schon«, sagte er gleichmütig. »Sie glauben jetzt, daß Sie’s nicht tun werden, aber es wird eine Zeit kommen, wo das Fleisch Sieger bleibt, wo es schreit, daß es nicht mehr ertragen kann, wo die Nerven der Schmerzen müde werden, der Wille das Warten nicht mehr erträgt, dann werden Sie mich behandeln.«
Er betrachtete Flowers gelassen vom Scheitel bis zur Sohle. Seine Augen wurden hell. Flowers glaubte, sich beherrschen zu können, glaubte nicht hinsehen zu müssen, aber es ging nicht. Er sah hinunter. Seine Jacke hatte sich geöffnet. Unter dem weißen Stoff war die Tastatur des Bandgeräts zu sehen.
Bone griff neugierig nach dem Gürtel. Bevor Flowers reagieren konnte, wurden seine Arme ergriffen und nach hinten gerissen.
»Eine Tonbandspule«, sagte Bone, »und besprochen ist sie auch noch!« Er drückte auf die Rückspultaste, dann ließ er das Band ablaufen. Während die körperlosen Stimmen durch den Raum tönten, lehnte er sich an die getäfelte Wand und lauschte mit schwachem Lächeln. Nachdem das Band abgespielt war, grinste er.
»Holt das Mädchen und den alten Mann. Ich glaube, sie könnten ganz nützlich werden.« Flowers verstand ihn sofort.
»Seien Sie nicht albern«, sagte er. »Sie bedeuten mir nichts. Es ist mir egal, was mit ihnen passiert.«
»Warum protestieren Sie dann?« fragte Bone unschuldig. Er sah die beiden Polizisten an. »Er muß in der Nähe bleiben. Am besten steckt ihr ihn in den defekten Aufzug.«
Eine Minute später schlossen sich die großen Messingtüren hinter Flowers, und er war wieder im Dunkeln.
Aber diesmal war es anders. Diesmal herrschte Nacht über einem Abgrund des Nichts. Er vermochte sich seiner Angst kaum zu erwehren …
Er stand zitternd vor den Türen, hämmerte mit schmerzenden Fäusten dagegen und schrie.
Nach einer Weile zwang er sich dazu, sich in eine Ecke zu
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