Der Gamma-Stoff
vernünftig, wie?«
Flowers biß die Zähne zusammen und unterdrückte ein Stöhnen. Er ließ sich durch Glastüren in ein großes Zimmer führen, das von einer langen, dunkelpolierten Theke in zwei Hälfte geteilt wurde. An der rechten Wand stand eine Bank, auf der ein hagerer Mann mit rattenähnlichem Gesicht saß. Das Gesicht feixte Flowers an. Der Händler! dachte Flowers betäubt. Frei. Lachend. Während er von der Polizei festgehalten wurde.
Bis sie die massive Holztür in der rechten Wand erreichten, konnte Flowers wieder gehen, ohne sich vor Schmerzen zu krümmen. »Wohin gehen wir?« stieß er hervor.
»Der Chef braucht einen Arzt«, sagte Coke, an ihm vorbeitrottend, um die Tür zu öffnen.
»Jetzt wird er bald aufwachen.«
»Der Chef? Wer ist das?«
Der grauhaarige kleine Mann starrte ihn ungläubig an. »John Bone!«
»Coke!« schrie eine schmerzgepeinigte Stimme. »Coke! Wo bist du?«
»Hier, Chef!« sagte Coke verängstigt. »Hier, mit einem Mediziner!«
Er eilte durch das Zimmer, um die Vorhänge zurückzuziehen. Das Licht kroch graufarben über den Boden, auf das weite Bett mit den zerdrückten Kissen. Ein Mann saß aufrecht zwischen ihnen. Er war ausgezehrt und spindeldürr.
»Ein Mediziner!« schrie er. »Ich brauche einen richtigen Arzt. Ich sterbe! Ich brauche einen Doktor!«
»Etwas anderes haben wir nicht bekommen können«, ächzte Coke.
»Na, schon gut«, sagte Bone. »Dann muß er eben genügen.« Er schwang die Beine über den Bettrand und steckte sie in hellblaue Hausschuhe. »Los, behandeln Sie mich!«
»Wo ist Ihr Kontrakt?« fragte Flowers.
»Kontrakt?« schrie Bone. »Wer hat einen Kontrakt? Glauben Sie, ich würde einen Kerl wie Sie herschleppen lassen, wenn ich einen Vertrag hätte?«
»Ohne Kontrakt keine Behandlung.«
Die Hand traf ihn wie ein Knüppel im Genick. Flowers schwankte und wäre beinahe zu Boden gestürzt. Wie aus weiter Ferne hörte er sich sagen: »Das nützt auch nichts.«
Als sich das Dunkel lichtete, saß er auf einem Stuhl in der Nähe des Bettes. Schmerzgequält drehte er den Kopf. Die Polizisten standen hinter ihm, auf jeder Seite einer. An der Tür lauerte der Händler. Coke stand vor ihm. Zwischen Stuhl und Fenster ging Bone auf und ab. Seine Hausschuhe klapperten auf dem Marmorboden.
»Ich brauche Behandlung! Können Sie nicht sehen, daß ich sterbe?«
»Wir sterben alle«, sagte Flowers.
Bone blieb stehen und starrte Flowers grimmig an. »Gewiß. Aber manche können es länger hinausschieben, wenn sie schlau sind. Ich bin schlau. Ich brauche Behandlung. Ich kann bezahlen. Warum soll ich nicht behandelt werden? Warum benachteiligt man mich, glauben Sie vielleicht, daß noch keinem Menschen Behandlung zuteil geworden ist, die ihm nicht zugestanden ist?«
»Das einzige, was ich weiß, ist, daß es ethische Grundsätze gibt, an die ich gebunden bin. Was spielt es für eine Rolle«, sagte Flowers trotzig, »Sie brauchen keinen Arzt, sondern einen Psychiater. Das einzige, woran Sie leiden, ist Hypochondrie.«
Bone starrte Flowers mit dunklen, unerforschlichen Augen an.
»So«, sagte er leise. »Ein Hypochonder bin ich? Ich sterbe also nicht? Wer kann das wissen? Und die Schmerzen in meinem Bauch sind Einbildung? Ich bin im Kopf krank? Nun, vielleicht. Kommen Sie her, ich will Ihnen etwas zeigen.«
Flowers reagierte nicht schnell genug. Eine grobe Hand stieß ihn vom Stuhl, trieb ihn durch das Zimmer. Er blieb neben Bone vor einem der großen Fenster stehen. Die Dämmerung war gekommen, und die Stadt lag golden unter ihnen, ohne daß man die Anzeichen des Verfalls erkennen konnte.
»Schauen Sie«, sagte Bone und umschloß die ganze Stadt mit einer weiten Handbewegung. »Meine Stadt! Ich bin der letzte einer sterbenden Rasse, der politische Machthaber. Nach mir die Sintflut. Es wird keine Stadt mehr geben. Sie wird auseinanderfallen. Ist das nicht traurig?«
Flowers sah auf die Stadt hinaus, von ihren Ruinen wissend, und dachte, es wäre sehr gut, wenn alles von Feuer oder Flut vernichtet würde, von der Erde gewischt, wie die Medizin Pocken, Diphterhie, Malaria und hundert andere Infektionskrankheiten ausgemerzt hatte – nur auf andere Art natürlich.
»Die Stadt«, meinte Bone nachdenklich, »ist ein seltsames Wesen. Sie hat ihr eigenes Leben, ihre Persönlichkeit, ihre Gefühle. Ich umwerbe sie, ich wüte, ich schlage sie. Aber hinter allem steckt Liebe. Sie stirbt, und es gibt keine Medizin, um sie zu retten.« In Bones Augen standen
Weitere Kostenlose Bücher