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Der Gamma-Stoff

Der Gamma-Stoff

Titel: Der Gamma-Stoff Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Gunn
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setzen. Er zwang sich dazu, zu vergessen, daß diese kleine Zelle defekt über einem tiefen Schlund hing.
    Er erinnerte sich daran, die alten Knöpfe der Steuertafel gedrückt zu haben. In seiner Verzweiflung hatte er sich einen Fingernagel abgerissen, als er die Türen aufzwingen wollte.
    Er fand seine Tasche und knipste das Licht an, suchte nach einer Bandage und preßte sie über den Finger, wo der Nagel gewesen war. Dann saß er im Dunkeln.
    Es war unbequem, es gefiel ihm nicht, aber es war besser, im Dunkeln zu sitzen und zu wissen, daß Licht zur Verfügung stand, als überhaupt kein Licht zu haben.
    Zwei Stunden später gingen die Türen auf, und Leah wurde hereingelassen. Seine Uhr sagte die Zeit, sonst hätte er nicht geglaubt, daß nicht ein ganzer Tag vergangen war.
    Das Mädchen taumelte, und Flowers war so blind wie Leah. Er sprang jedoch auf, fing sie, bevor sie stürzte, und hielt sie fest an sich gepreßt. Sie wehrte sich, schlug mit Händen und Füßen zu.
    »Ich bin es«, sagte Flowers mehrmals. »Der Arzt.« Als sie aufhörte, sich zu wehren, ließ Flowers sie los, aber sie erstarrte, packte seinen Arm und blieb zitternd stehen.
    Es war ein merkwürdiges Gefühl für Flowers, sie festzuhalten. Es war tröstend, nicht so unpersönlich wie sein Beruf.
    »Wo sind wir?« flüsterte sie.
    »In einem defekten Aufzug im Rathaus«, sagte er heiser. »John Bone.«
    »Was will Bone?« fragte sie.
    »Er will behandelt werden.«
    »Und Sie lehnen ab.« Das war eine Feststellung, keine Frage. »Immerhin sind Sie konsequent. Ich habe dem Zentrum gemeldet, daß Sie entführt worden sind. Vielleicht kommt bald Hilfe.«
    Die Hoffnung flammte auf, wurde aber von der Realität zertreten. Das Medizinische Zentrum hatte keine Möglichkeit, festzustellen, wo er sich befand, und für einen halbfertigen Arzt würde man nicht die ganze Stadt durchsuchen.
    »Hat Bone auch Ihren Vater erwischt?«
    »Nein«, sagte Leah gleichmütig. »Das Amt hat ihn geholt. Die Leute sahen Russ, als sie wegen der Entführung kamen. Einer von ihnen hat ihn erkannt. Man hat ihn mitgenommen.«
    »Das ist unglaublich!« rief Flowers. »Aber wohin haben sie ihn gebracht?«
    »In die Experimentierstation.«
    »Aber doch nicht Dr. Pearce!«
    »Jetzt wissen Sie also, wer er war. Die anderen auch. Sie haben seinen alten Gegenseitigkeitsvertrag als Ausrede benützt, weil das Verfalldatum willkürlich auf einhundert Jahre festgesetzt wurde. Früher lebten die Ärzte nicht so lange. Ich glaube, daß es heute noch nicht anders ist.«
    »Aber er ist doch berühmt!«
    »Deswegen wollen sie ihn ja haben. Er weiß zuviel, und zu viele Menschen erinnern sich an ihn. Man befürchtet, daß die Antivivisektionspartei seiner habhaft wird und ihn auf irgendeine Weise gegen die Ärzte benützt. Man sucht ihn jetzt seit 60 Jahren, seit dem Zeitpunkt, als er das Krankenhaus verließ, in die Stadt ging und nie zurückkehrte.«
    »Jetzt erinnere ich mich«, sagte Flowers hastig. »Er dozierte vor einer Klasse – über Hämatologie, glaube ich. Mitten im Satz hörte er auf und sagte: ›Meine Herren, wir sind zu weit gegangen. Es ist Zeit, unsere Spur zurückzuverfolgen und herauszufinden, wo wir gefehlt haben.‹ Dann verließ er den Hörsaal und das Krankenhaus, und niemand hat ihn je wiedergesehen. Niemand wußte, was er gemeint hat.«
    »Diese Zeit ist vergessen. Er spricht – er sprach nie davon. Ich dachte, daß es ein Ende hat mit dem Verstecken. Ich dachte, sie hätten ihn endlich aufgegeben – was will John Bone von mir?«
    »Er hofft, daß er mich dazu zwingen kann, ihn zu behandeln, indem –«
    »Indem er mich mißhandelt? Haben Sie ihn ausgelacht?«
    »Nein. Nein, das habe ich nicht getan.«
    »Warum nicht?«
    »Vielleicht habe ich nicht schnell genug gedacht.«
    Leah zog langsam ihre Hand aus der seinen, und sie saßen stumm in der Dunkelheit. Flowers Gedanken waren schmerzlich; er konnte es kaum ertragen, sich mit ihnen abzugeben.
    »Ich werde mir Ihre Augen ansehen«, sagte er plötzlich.
    Er holte sein Ophthalmoskop heraus, beugte sich zu dem Mädchen hinüber und richtete den Lichtpunkt auf die bewölkte Hornhaut. Sie saß regungslos und ließ es geschehen, daß er ihre Lider hochzog.
    Er nickte nachdenklich und verstaute das Instrument wieder in der Tasche.
    »Besteht Hoffnung, Doktor?« fragte sie.
    »Nein«, log er.
    Das war unethisch. Er hatte ein seltsames, schwindliges Gefühl, aber gleichzeitig machte sich auch eine gewisse Hochstimmung

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