Der Gamma-Stoff
bemerkbar. Es war Barmherzigkeit. Selbstverständlich konnte sie sehen – wenn sie sich einer Operation unterzog, die mehrere tausend Dollar mehr kostete, als sie je besitzen würde. Es war Barmherzigkeit, diese Hoffnung ein für allemal zu zerstören.
Vielleicht entsprach es nicht den ethischen Grundsätzen, aber es war ihm eben erst klargeworden, daß es Gelegenheiten gab, wo der Arzt den Patienten und nicht die Krankheit zu behandeln hatte. Trotz der Behauptungen der Professoren. Jeder Patient war ein Individuum mit seinen eigenen Problemen und seiner speziellen Behandlung, und nur ein Teil von beiden war medizinischer Natur.
»Ich verstehe nicht«, sagte er abrupt, »warum die Menschen John Bone hier mit seiner Korruption, seiner Bestechlichkeit, seiner Gewalttätigkeit wirtschaften lassen.«
»Das ist nur die eine Seite, die sehr wenige Menschen sehen. Für die meisten ist er der Patron – oder, in längerer Übersetzung, derjenige, der für uns etwas erreicht. Was werden Sie mit ihm anfangen?«
»Ihn behandeln«, sagte Flowers ruhig. »Es hat keinen Sinn, den Don Quichote zu spielen.«
»Aber Sie –«, begann sie.
»Ich heiße Ben«, sagte er. »Ben Flowers. Ich möchte nicht darüber sprechen. Vielleicht hört uns jemand zu.«
Danach war es die meiste Zeit still, aber es war eine lebendige Stille, lebendiger vielleicht als jedes Gespräch, und ihre Hand fügte sich wieder in die seine.
Als der Polizist die Tür öffnete; herrschte wieder Nacht. Flowers wurde eilig in das dunkelgetäfelte Zimmer getrieben. Bone hatte sich in einen dicken, roten Morgenmantel gewickelt, aber er sah immer noch aus, als friere ihn.
Bone bemerkte, daß Flowers sich neugierig umsah und sagte: »Das war einmal das Büro des Stadtdirektors. Das Amtszimmer des Bürgermeisters liegt auf der anderen Seite. Ich benütze das eine für die Geschäfte, dieses hier für das Vergnügen, obwohl geschäftlich nicht mehr viel zu tun ist – und mit dem Vergnügen hapert es auch. Das ist also das Mädchen. Blind. Das hätte ich mir denken können. Nun, wie haben Sie sich entschieden?«
Flowers hob die Schultern. »Ich werde Sie natürlich behandeln.«
Bone rieb sich die trockenen Hände.
»Gut, gut.« Er lächelte hämisch. »Aber woher weiß ich, daß Sie mich auch richtig behandeln? Vielleicht sollten wir Ihnen zeigen, was ein Versagen in dieser Hinsicht für das Mädchen bedeutet?«
»Das ist nicht nötig«, erklärte Flowers hastig. »Ich bin kein Narr. Sie filmen das Ganze. Nachdem ich Sie behandelt habe, werden Sie mich erpressen, damit ich bei der Sache bleibe. Wenn Sie nicht zufrieden sind, können Sie das Material an die Medizinische Gesellschaft weitergeben. Außerdem« – seine Stimme sank plötzlich in ein tieferes Register ab –, »wenn Sie dem Mädchen etwas tun, rühre ich keinen Finger, um Ihr Leben zu retten!«
Das Aufflackern in Bones Augen mochte Bewunderung sein.
»Sie gefallen mir«, sagte er. »Schließen Sie sich mir an. Wir wären ein gutes Team.«
»Nein, danke«, sagte Flowers verächtlich.
»Überlegen Sie sich’s und sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie sich anders entscheiden sollten«, meinte Bone. »Aber kommen wir zur Sache.« Seine Stimme klang flehend.
»Lassen Sie den Motor der Ambulanz anlaufen«, sagte Flowers.
Bone nickte dem Sergeant zu. »Los!«
Sie warteten, alle vier, steif und unsicher. Als es in den Tiefen der Tasche aufzuglimmen begann, befestigte Flowers die Instrumente an Bones Körper.
»Wo ist Coke?« fragte er sich. Er las die Diagnose ab, entfernte die Instrumente und entfernte sie langsam. Nachdenklich kramte er in den Fächern der Tasche.
»Was ist?« fragte Bone besorgt. »Sagen Sie mir, was los ist.«
Flowers Gesicht war ernst.
»Nichts, worüber man sich Sorgen machen müßte«, sagte er und versuchte, seine Besorgnis zu verbergen, was ihm nicht gelang. »Sie brauchen ein Aufpulverungsmittel. Vitamine nehmen Sie sicher schon zu sich. Verdoppeln Sie die Dosis.« Er nahm ein Fläschchen mit rosa Pillen zur Hand. »Hier sind Barbiturat-Benzedrintabletten, damit Sie nachts schlafen können und erst morgens aufwachen. Und hier ist zusätzlich noch etwas.« Er gab Bone ein zweites Fläschchen. Diese Pillen waren rund, flach und grün. »Dreimal täglich je eine.«
Bone runzelte die Stirn. »Was enthalten sie?«
»Nichts, was Ihnen schaden könnte.« Flowers schüttete zwei in seine Hand, steckte sie in den Mund und schluckte. »Sehen Sie?«
Bone nickte. »Okay. Schafft
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