Der Gang vor die Hunde (German Edition)
spät«, sagte er.
Sie blickte ihm vom Fenster aus nach und nickte. Er winkte und lachte und lief schnell, bis das Haus nicht mehr zu sehen war. Dann verlangsamte er den Schritt und blieb schließlich stehen. Ein hübsches Versteckspiel trieb er da mit der alten Frau! Rannte auf und davon, obwohl er nichts zu tun hatte. Ließ sie da oben allein in dem fremden, häßlichen Zimmer, obwohl er wußte, daß sie jede Stunde, die sie mit ihm zusammensein durfte, bereit war, gegen ein ganzes Jahr ihres Lebens einzutauschen. Am Nachmittag würde sie ihn vom Büro abholen. Er mußte ihr eine Komödie vorspielen. Sie durfte nicht wissen, daß er entlassen war. Der Anzug, den er trug, war der einzige, den er sich in zweiunddreißig Jahren selber gekauft hatte. Ihr Leben lang hatte sie seinetwegen geschuftet und gespart. Sollte das denn nie ein Ende nehmen?
Weil es zu regnen anfing, ging er im Kaufhaus des Westens spazieren. Kaufhäuser sind, obwohl das gar nicht in ihrer Absicht liegt, außerordentlich geeignet, Leuten, die kein Geld und keinen Schirm haben, Unterhaltung zu bieten. Er hörte einer Verkäuferin zu, die sehr gewandt Klavier spielte. Aus der Lebensmittelabteilung vertrieb ihn der Fischgeruch, den er seit seiner Kindheit, vielleicht auf Grund einer embryonalen Erinnerung, nicht ausstehen konnte. In der Möbeletage wollte ihm ein junger Mann unbedingt einen großen Kleiderschrank verkaufen. Das Stück sei preiswert, die Gelegenheit unwiederbringlich. Fabian entzog sich der unerhörten Zumutung und wanderte in die Buchabteilung. Er geriet an einem der Antiquariatstische über einen Auswahlband von Schopenhauer, blätterte und las sich fest. Der Vorschlag dieses verbiesterten Onkels der Menschheit, Europa mit Hilfe einer indischen Heilpraxis zu veredeln, war freilich eine Kateridee, wie bisher alle positiven Vorschläge, ob sie nun von Philosophen des neunzehnten oder von Nationalökonomen des zwanzigsten Jahrhunderts stammten. Aber davon abgesehen war der Alte unübertrefflich. Fabian fand eine typologische Erörterung und las:
»Eben dieser Unterschied ist es, den Plato durch die Ausdrücke εύχωλως und δυσχωλως bezeichnete. Derselbe läßt sich zurückführen auf die bei verschiedenen Menschen sehr verschiedene Empfänglichkeit für angenehme und unangenehme Eindrücke, infolge welcher der eine noch lacht bei dem, was den anderen fast zur Verzweiflung bringt, und zwar pflegt die Empfänglichkeit für angenehme Eindrücke desto schwächer zu seyn, je stärker sie für unangenehme ist, und umgekehrt. Nach gleicher Möglichkeit des glücklichen und unglücklichen Ausgangs einer Angelegenheit wird der δυσχωλως bei dem unglücklichen sich ärgern oder grämen, bei dem glücklichen sich aber nicht freuen; der εύχωλως hingegen wird über den unglücklichen sich nicht ärgern noch grämen, aber über den glücklichen sich freuen. Wenn dem δυσχωλως von zehn Vorhaben neun gelingen, so freut er sich nicht über diese, sondern ärgert sich über das eine mißlungene: Der εύχωλως weiß, im umgekehrten Fall, sich doch mit dem einen gelungenen zu trösten und aufzuheitern.
Wie nun aber nicht leicht ein Übel ohne alle Kompensationen ist, so ergibt sich auch hier, daß die δυσχωλωι, also die finsteren und ängstlichen Charaktere, im Ganzen zwar mehr imaginäre, dafür aber weniger reale Unfälle und Leiden zu überstehen haben werden als die heiteren und sorglosen; denn wer alles schwarz sieht, stets das Schlimmste befürchtet und demnach seine Vorkehrungen trifft, wird sich nicht so oft verrechnet haben, als wer stets den Dingen die heitere Farbe und Aussicht leiht.«
»Was darf ich Ihnen verkaufen?« fragte ein ältliches Fräulein.
»Haben Sie baumwollene Socken?« fragte Fabian.
Das ältliche Fräulein betrachtete ihn entrüstet und sagte: »Im Erdgeschoß.« Fabian legte das Buch auf den Tisch und stieg eine Treppe abwärts. Hatte Schopenhauer damit Recht, daß er, gerade er, jene zwei menschlichen Gattungen als einander ebenbürtig gegenüberstellte? Hatte nicht gerade er in seiner Psychologie behauptet: die Lustempfindung sei nichts anderes als ein seelisches Minimum an Unlust? Hatte er in diesem Satz die Anschauung der δυσχωλωι wider besseres Wissen verabsolutiert? In der Abteilung für Porzellan und keramisches Kunstgewerbe war ein Auflauf. Fabian trat hinzu. Käufer, Verkäuferinnen und Bummler umstanden ein kleines verheultes Mädchen, das zehn Jahre sein
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