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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
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sondern arbeiteten sich an steinigeren Straßenabschnitten ab. Die stellvertretende Studiendekanin hatte ihn begrüßen wollen, war dann aber stehengeblieben, aufgehalten von den schlechten Schwingungen an dem Ecktisch. Das Lyrical Ballad war allerdings zu klein für einen vollen und ehrenhaften Rückzug. Der war innerhalb eines Einmeilenradius um den Campus herum kaum irgendwo zu schaffen. Also war Vivian mitten im Raum erstarrt und musterte Ciceros Frühstücksgenossen mit strengem Blick.
    Auch dieser Anblick ließ ihn zurückstürzen. Ausnahmsweise allerdings nicht auf die Eisdielenhocker. Nicht zu Comics und Egg Cream. Diesmal lief er an einem Samstagmorgen im Sonnenschein einen Gehweg entlang, neben ihm monologisierte Rose über eine x-beliebige Schande für die Bürgerlichkeit, und beide kamen schnellen Schritts an einem Schulhof vorbei. Von der anderen Seite des Maschendrahtzauns, aus einem Stickballspiel ausgestiegen, die Finger in den Maschendraht gehakt, wurden sie von einem schwarzen Jungen angestarrt, den Cicero kannte. Schwarze Waffenbrüder in der weißen Wüste von Sunnyside usw. Einer von Ciceros Manchmal-fast-Freunden – ab und zu gab es das noch, bevor Ciceros tuntige Bücherwürmerei alle Hoffnungen zunichte machte, es könne Vorteile haben, wenn der feiste Copjunge einem den Rücken deckte. Der Blick, den der andere ihm an jenem Tag durch den Maschendrahtzaun zuwarf, besagte In was für einer Gesellschaft treibst du dich da denn rum? Wo hast du dich da reingeritten? Und mach ich die Sache für dich besser oder schlimmer, wenn ich jetzt was sag und vor diesem verrückten Weißbrot auch nur zugebe, dass ich dich kenne? Wenn er die unfreiwillige Erinnerung wegblinzelte,sah er, dass derselbe Text in Telepromptergröße vor Vivian Mitchell-Roses Augen ablief. Erst jetzt, wo Sergius nicht mehr fragte, ging Cicero auf, dass er vielleicht die Chance verpasst hatte, Rose aus seinem Kopf in den eines anderen zu verschieben. Den Versuch wäre es wert gewesen. Aber hielt er das überhaupt für möglich? Rose Zimmer war ein Affekt, der Ciceros Transferfähigkeiten überstieg.

14. Oktober 1958,
    Werkhofinstitut Rosa Luxemburg, Dresden
    Liebe Miriam,
    stell Dir meine Überraschung vor, als ich Deinen Brief erhielt und entdeckte, dass aus dem Mädchen, an das ich mich erinnere, eine junge Frau geworden ist, die nicht nur so scharfsinnige und freimütige Ermittlungen zu ihrem Vater durchführt, der so lange geschwiegen hat, sondern auch einen Besuch vorschlägt, damit wir uns wiedersehen können. Oder vielleicht weniger wiedersehen als überhaupt kennenlernen. Als erstes möchte ich begeistert sagen: Ja, bitte komm! Ich möchte Dich nicht mit dem Bericht belasten, wie es zu der Entscheidung kam, mich nicht mehr in Dein Leben und das Deiner Mutter einzumischen, nachdem die erste Phase meiner Rücksiedlung ein Schweigen erzwungen hatte. Lass mich stattdessen sagen, dass der glückliche Schock Deiner Kontaktaufnahme eine Quelle hoffnungsfroher Gefühle hat entspringen lassen. Mögen wir die Kluft der Jahre und der nationalen Grenzen überwinden, die uns viel zu lange getrennt hat! Erst einmal möchte ich Deine Fragen so direkt beantworten, wie es in einem solchen Brief möglich ist, auch wenn ein vollständiges Verstehen nur möglich sein kann, wenn wir zusammensitzen und reden, was wir unbedingt tun müssen.
    Unser Wirken für die Sache des internationalen Kommunismus in den Vorkriegsjahren war zwar ehrlich, aber abgrundtief naiv. Wiehätte das auch anders sein können, wenn es um einen Kommunismus ging, der sich unter amerikanischen Bedingungen zu Bewusstsein bringen wollte? Jeder, der sich in der KP der USA engagierte, spürte die Macht eines verführerischen Individualismus, der von einer Art Droge oder Krankheit gar nicht so weit entfernt war – vielleicht auch einem messianischen religiösen Eifer. (Möglicherweise ist das aber so deutlich auch erst von einer Warte zu erkennen, wie ich sie in Europa gewonnen habe.) Die Brutalität der Zeit der schwarzen Listen und McCarthys, die mir dankenswerterweise erspart geblieben ist, stellte immerhin Schuppen dar, die einem von den Augen fielen, denn jedem ehrlichen Sozialisten, der im amerikanischen System aktiv war, musste klar sein, dass er dazu verurteilt war, als Feind eben dieses Systems verfolgt zu werden – diese Feindschaft war das präzise Maß seiner Ehrlichkeit. Die Deiner Mutter und mir absolut abging.
    Erst im Verlauf meiner Umerziehung habe ich –

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