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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
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spät, aber es ist ja nie zu spät! – meine Leidenschaft für die Geschichte entdeckt. Mehr noch, eine Leidenschaft für die Forschung: für die Arbeit mit Quellentexten, die Nase immer am Boden, um eine Volksgeschichte zu schreiben, aber auch eine Leidenschaft für die Lehre. Die Amerikaner sind im Grunde (oder sollte ich sagen »an ihrer Oberfläche«?) ein geschichtsloses Volk. Diesen Luxus kann sich kein Europäer leisten. Mein unmittelbares Thema ist ein tragisches, dessen Spuren mich auf allen Seiten umgeben: die fast vollständige Zerstörung Dresdens in der großen Brandkatastrophe. Wie die Bürger aller Nationen fiel auch die deutsche Zivilbevölkerung der Nazi-Herrschaft zum Opfer, aber es war Dresdens spezielle und in Europa einzigartige »Ehre«, der nur Hiroshima und Nagasaki an die Seite zu stellen wären, an den Frontlinien des Kalten Krieges zu stehen, als Tableau des Grauens zu dienen und die Macht der Alliierten zu demonstrieren.
    Du musst also verstehen, liebste Miriam, dass Dein Vater in gewisser Weise wieder zur »Schule« geht, denn die Geschichte ist eine Schule, in der wir nie einen Abschluss machen. Ich bin ebenso einSchüler wie Du. Ich möchte Dir aber auch erklären, warum das in diesem Fall sehr buchstäblich die Wahrheit ist: Dieses Institut, in dem man nach einer so unorthodoxen Grenzüberquerung wie der meinen eingehend befragt wird und wo man üblicherweise mehrere Monate der Orientierung und Vorbereitung auf ein voll integriertes Leben in Ostdeutschland verbringt, ist in meinem Fall zur Heimat geworden. Es war mein Los, hier nicht nur meine Berufung zu entdecken, sondern auch zu bleiben und sie anderen weiterzugeben. Das Institut hat eine angenehme Lage am Ostrand von Dresden auf einem alten Campus, auf dem Gelände stehen elegante Gebäude aus dem 18. Jahrhundert, ein seltener Fall der Verschonung durch die Bombardierung, der der Nähe zur unberührten Natur zu verdanken ist. Das Werkhofinstitut Rosa Luxemburg hat hier den Spitznamen »Garten der Dissidenten«, auch wenn das für Dich drollig klingen mag. Es ist kein einsames Leben, denn ich lebe mit Michaela zusammen, meiner zweiten Frau. Wir haben uns kennengelernt, als Michaela hier ihre Stelle in der Verwaltung angetreten hat; sie ist einige Jahre jünger als ich – auch darin bin ich ein Schüler des Lebens geblieben! Bitte sei Dir bewusst, dass Du in meiner neuen Familie hochwillkommen bist.
    Mir gefällt Dein Plan, in Europa noch andere Orte zu besuchen, bevor Du mit dem Zug nach Dresden kommst. Wenn Du erst bei der Familie Deiner Freundin in London bleibst und dann mit der Fähre nach Belgien übersetzt, kannst Du dank der internationalen Bahnverbindungen beliebig viele Städte besuchen. Darf ich aber darum bitten, dass Du auch in Lübeck Station machst und dort das von Thomas Mann berühmt gemachte »Buddenbrooks«-Haus besuchst? Wie Du hoffentlich erzählt bekommen hast, wohnten im Nachbarhaus in großer Unschuld und Pracht die Opernsängerin und der Bankier – womit ich natürlich Deine Großeltern meine, als die ich sie lieber in Erinnerung behalte. In jenem Haus bin ich auf die Welt gekommen. Lübeck gehörte zu den ersten Städten, gegen die die Alliierten Luftangriffe flogen, die Ouvertüre zu dem Alptraum, derhier in Dresden seinen Höhepunkt erreichte. Auf diese Weise wäre Deine Reise eine Westentaschenallegorie des Schicksals unserer Familie, aber auch des Themas, dem ich meine Forschungsarbeit gewidmet habe, und ein Präludium all dessen, worüber wir sprechen wollen.
    Bitte schreib mir, wenn Du weißt, wann genau Du ankommst, damit Michaela und ich Dich gastfreundlich empfangen können.
    Ich wünsche Dir alles Gute.
    »Dad«
    —
    2. März 1961,
    Werkhofinstitut Rosa Luxemburg, Dresden
    Liebe Miriam,
    ich sende Dir meine allerherzlichsten Glückwünsche zu Deiner Hochzeit! Ich glaube, ich muss mich langsam daran gewöhnen, von Deinen Nachrichten immer wieder überrascht zu werden, und ich muss zugeben, dass ich mich an Deine Reife trotz allem noch immer nicht gewöhnt habe. Zweifellos wird als nächstes Deine Nachricht kommen, dass Du mich zum Großvater gemacht hast. Sobald es soweit ist, werde ich, wie bereits vorgeschlagen, eine Reise nach Kanada arrangieren, damit ich das Kind sehen und Deiner neuen Familie die lange Reise ersparen kann. Mich beruhigt aber auch die Schnelligkeit, mit der Du nach dieser Peinlichkeit mit dem deutschen Jungen wieder auf die Füße gekommen bist und Dich in das nächste

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