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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
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la H. G. Wells, die man Normalsterblichen gar nicht vermitteln kann. Er hätte niemals hier stranden dürfen, im endlosen Verhängnis zwischen den beiden Endpunkten. Hier gibt es nur Nebensächlichkeiten, Miriams Yippie-Boykotte und Kinderkrippenmärsche; Mahnwachen des Folksängersgegen die Todesstrafe; haarespaltende trotzkistische Träumer und frantz-fanonsche Trikontfetischisten, französische Eierköpfe, die aus dem Marxismus ein Kauderwelsch gemacht hatten, eine neue Form der Kabbala. Oder die Bürgerrechtler, die Black Power den Weg bereitet hatten, und was war dann der Dank? Der Hass eines Jugendlichen wie Cicero. Ha! Genausogut konnte man, nur mal so als zufällig herausgegriffenes Beispiel, gegen die Apartheid protestieren, indem man gefälschte Krügerrands an die IRA verhökerte.
    Für den Letzten ist kein Platz mehr, aber wenn er ehrlich ist, weiß er, dass er nicht der Letzte ist, dass er nur der Fackelträger der Letzten ist, eine Fackel, die sie kaum braucht, da sie selber die ganze Zeit lodert und darauf wartet, dass die Welt bei ihr an die Tür klopft. Sie, die in die Nachbarschaft verschwunden ist: Cops, Bibliothek, Pizzeria und eine als Titelgeschichte an den Kühlschrank gepinnte Weihnachtskarte des Bezirkspräsidenten. Sunnysideismus ist der Kommunismus des späten 20. Jahrhunderts.
    Lenny hätte aufgeben sollen, als er bei den Essiggurken eingestiegen war, hätte lernen sollen, gern Hemden zu tragen, die nach Eingelegtem stanken. Damals war er näher dran, als ihm bewusst geworden war.
    Die 7 steht im Leerlauf an der Lowery Street. Als sich die Türen schließen wollen, schnappt er sich seinen Zylinder, springt hindurch und ist frei.
    —
    Rose öffnete ihm und ließ ihn ohne ein Wort ein: Vielleicht ist der Besuch des Manns mit dem Zylinder schon seit einem Leben überfällig. Natürlich, hereinspaziert, wo warst du denn solange? Lincoln, Roses Prophet Elias, und warum immer übergangen werden? Typisch Rose anzunehmen, er würde für seine Wiederkehr ausgerechnet ihre Tür auswählen. »Vor 87 Jahren brachten unsere Väter …«, intonierte Lenny, aber der Scherz wurde von der Ehrlichkeit übertönt, die die Worte und der Anlass ihm abverlangten, vom Wunsch, nicht zu enttäuschen.Er stockte. Hätte er doch bloß die ganze Ansprache auswendig gekonnt. Rose starrte ihn nur an, ihr scharfer Blick schien etwas zu fordern, auf etwas zu warten. Dieser stoische Blick war Ciceros gar nicht so unähnlich. Doch Cicero hatte Rose genauso verlassen wie der Rest der Welt, war nach Princeton und darüber hinaus verschwunden, in Miriams Halloween-Parade. Lenny fragte sich, wann Rose wohl das letzte Mal von ihrem undankbaren Schützling gehört hatte.
    Das ganze Jahrhundert hatte Sunnyside Gardens verlassen, verdunkelte nicht mehr ihre Tür. Aber hatte es dabei irgendetwas gelernt?
    Lennys Lippen schafften es nicht, unter dem Lincolnbart hervor versteck mich oder halt mich fest zu sagen, obwohl er beides gern gesagt hätte. Weder die Ansprache von Gettysburg noch die Proklamation fiel ihm ein, und auch seine eigene Stimme fand er nicht. Keine Erklärung war ausreichend für die Frau, die ihm gegenüber stand und der all seine Enttäuschungen entsprungen waren, sie allein kannte die unaussprechliche rote Gewissheit in seiner Seele, denn sie selbst hatte sie ihm eingeflößt, selbst wenn sie das gar nicht beabsichtigt hatte. 1948 hatte er eines Sommerabends als trotteliger Vetter bei ihr am Tisch gesessen und etwas gehört, woran er glauben konnte, so wie andere an Gott oder Vaterland glaubten. Seine Eltern hatten seinen Bauch mit Nudel-Kugels gemästet, Rose sein Hirn mit der Revolution.
    Rose trat in ihrem Bademantel einen Schritt in die Küche zurück und starrte die Lincoln-Silhouette an, die sich vor dem vom Mond erhellten Grün der Innenhöfe des Blocks abzeichnete, und er in seinem Kostüm fragte sich plötzlich, ob sie überhaupt gemerkt hatte, wer darunter steckte, ob sie ihn an Stimme oder Daumen erkannt hatte oder zum Narren gehalten worden war. Während er durch die Gardens gestolpert war, waren ihm keine Kinder aufgefallen, die »Süßes oder Saures« verlangt hatten. Kein Halloweenkürbis auf ihrer Vortreppe. Lenny schloss die Tür hinter sich. Seine Zunge lahmte vielleicht, aber er besaß noch die Rechtschaffenheit in der Lincoln-Hose. Oder besaß sie wieder, nachdem er von den Wichten so unsanft behandelt und der Linie 7 ausgeliefert worden war. Das war wie der Katerständer,auf den sich

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