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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Lethem
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Chor. Daran musste sich Rose noch gewöhnen. Sein unsichtbares Studiopublikum wollte sich ausschütten vor Lachen und bejubelte den platten Scherz. Juden, Christen, Schwarze und Chinesen. Wenn sämtliche Schmelztiegelträume in Archies Empfindsamkeit ihre letzte Ruhe fanden, gab dieser Aphorismus einen guten Grabspruch ab. Solange es nicht der Grabspruch ihrer Affäre wurde, die abgeschmackte Abschiedsrede auf Rose und Archie. So leicht gab sie ihn nicht auf.
    »Verstehst du denn nicht, dass ich in erster Linie eine Umstürzlerin bin und erst danach Jüdin? Meinetwegen, wenn dich das scharf macht, dann fick eine vor Trauer verrückt gewordene kommunistische Jüdin.«
    »Mein lieber Herr Gesangverein, du hast vielleicht ein Mundwerk, Rose, könntest du das wohl mal ein, zwei Prozent runterfahren?«
    Zu billig; Mundwerk und runterfahren hatte genügt, seine unsichtbaren Horden zum nächsten zwerchfellerschütternden Crescendo anzustacheln.
    »Du nimmst mich also nicht?«
    »Ich nehme dich und zwar HIER! UND! JETZT!!!! «
    Die Anhäufung agonistischer Pointen deutete zu Roses Entsetzen darauf hin, dass der Abspann nahte und die Folge ihr Ende erreicht hatte. Ausgerechnet in dem Moment, als sie endlich Archies Aufmerksamkeit erlangt hatte. Ihr einziger Trost war, dass sie nach diesem Cliffhanger im Hinterzimmer in den kommenden Folgen garantiert eine zentrale Rolle übernehmen würde. Vielleicht war ihr sogar eine eigene Serie vergönnt. Die konnte dann einfach Rose heißen. Oder Reuelos!
    Ohne dass Rose es mitbekommen hatte, war die Tür zur Kneipe von einer kleinen Hand aufgeschoben worden. Ein Mädchen mit schwarzem Haar schlüpfte herein und rief Archie etwas zu. Die Kleine trug einen Kordoverall über einem Rollkragenpulli, hatte die Haare zu Zöpfen geflochten und war vielleicht neun oder zehn. Archies und Ediths Pflegetochter; wie hatte Rose sie nur vergessen können? Nein, Rose würde diesen Mann nie für sich haben, nicht so lange, dass es zählte. Archie war ein Riesenplanet, um den herum kleinere Himmelskörper ihre Bahnen zogen. Ob zu Hause oder in der Kneipe, immerzu kam jemand herein. Figuren wurden beerdigt wie Stretch Cunningham, und neue Komplizen tauchten auf, neue Zielscheiben für Archies Spott. Damit musste Rose leben.
    Archie ließ sich dem Mädchen gegenüber nichts anmerken, sondern zog ihr die Ohren lang. »Was hast du denn hier zu suchen? Ich hab dir schon tausendmal gesagt, dass das kein Ort für Kinder ist!«
    Das Mädchen achtete nicht auf sein Gepolter. »Kaufst du mir Rollschuhe, Archie? Bei McCrory’s sind die seit gestern im Sonderangebot.«
    »Gestern? Na, dann hast du’s wohl verpasst! Und steck das Ding da unter den Kragen, Herrgott noch mal. Bloß weil ich’s dir gekaufthabe, heißt das noch lange nicht, dass ich’s die ganze Zeit anstarren will –«
    »Tut mir leid, Archie.«
    »Was hast du ihr gekauft?«, wollte Rose wissen.
    »Das geht dich nichts an«, sagte Archie.
    »Warte.« Rose hielt die Hand des Mädchens fest, die nach dem Kettchen gegriffen hatte, das ihm um den Hals hing. Teilnahmslos öffnete es die Faust. In der Handfläche lag ein billiger Davidsstern aus Aluminium.
    Ein vom Schicksal verwaistes jüdisches Mädchen, das in einer kalten Welt ausgerechnet beim Nachbarschaftstyrannen gelandet war. Woran sollte das Rose wohl erinnern? An Anne Frank? Oder an –? Die herzzerreißende Schamlosigkeit der ganzen Angelegenheit stank zum Himmel.
    »Den hast du ihr gekauft?«
    »Und wenn schon?«, blaffte er.
    »Du und Edith, ihr seid Pflegeeltern eines jüdischen Mädchens?«
    Archie wand sich unter dem Vorwurf, fletschte die Zähne und drohte ihr mit dem Zeigefinger. »Komm mir ja nicht dumm. Das ist eine Familienangelegenheit, verstanden? Sie kann nichts dafür, was sie ist.«
    »Genausowenig wie –« Aber Rose verstummte. Der Körper hatte seine eigenen Bedürfnisse, Befehle, für die die Sprache nur ein unbedeutendes Ventil war. Irgendetwas in Rose öffnete sich durch den Kontakt. Sie drückte die kleine Hand mit dem Davidsstern an die Brust, als wäre das Schmuckstück für sie beide da. Dann kniete sie sich hin und umarmte das Mädchen. Es lag kühl und reglos an ihrer bebenden Brust, und Roses Tränen tropften ihr ins Haar. Archie zuckte die Schultern, verzog den Mund und verdrehte die Augen, wie immer hilf los angesichts des von Juden wieder einmal angerichteten emotionalen Tohuwabohus. Durch die Kulisse ihres Kummers verstand Rose, dass sie nicht mehr Herrin

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