Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
des Drehbuchs war. Es würde keine eigene Serie geben.
»Heiliger Strohsack. Guck sich einer euch beide an.« Archie sprach jetzt fast zärtlich und im Flüsterton. Er konnte sich Zärtlichkeit leisten, hatte wieder mal gewonnen, wie er am Ende immer gewann. »Wenn ich euch beide so sehe, dann frag ich mich echt, warum hast du bloß deinen Enkel nicht zu dir genommen?«
Rose antwortete nicht. Sie ließ das Mädchen los, das sich unter Archies Schutz begab.
»Hattest du Bedenkereien gegen diese ganze Quäker-Kiste?«
Du Spatzenhirn, jede Religion ist mir sowas von egal. Aber Rose war mit den Pointen durch. Sollte Archie doch das letzte Wort haben. Sie hatte es satt, sich mit den Schatten im Zimmer zu unterhalten, den Peitschenhieben der Mattscheibe und des Lichts gegen die graue Innenleinwand ihrer Sehnsucht.
»So etwas muss eine Familie aushalten können. Dieses kleine Judenmädchen hat dem alten Hund doch tatsächlich noch ein paar Tricks beigebracht, stell dir das mal vor.«
Applaus. Abspann.
War das Buch über den Stier das erste Buch, an das er sich erinnern konnte? Wenn nicht, konnte es vielleicht das erste sein, auf dessen glänzendem Pappumschlag die Fingerabdrücke des Jungen die ersten Abdrücke waren, das erste, dessen Seiten er selbst beim Lesen weich gemacht hatte. Vielleicht hatte es in seinem Zimmer in der Kommune einige zerlesene Bilderbücher gegeben. Wahrscheinlich schon. Er würde es nie wieder genau wissen. Andere Bücher waren ihm in der Public School 19 über den Weg gelaufen, oder in der Bücherei, allesamt von unzähligen Kindern vor ihm zur Unterwerfung gezwungen – Katzen, Bären, Schleppdampfer, Löffelbagger, Sneeches –, aber nichts hatte echten Eindruck gemacht. Seine Mutter hatte ihm aus ihrer abgenutzten Heritage-Kriegsausgabe von Alice im Wunderland und Alice hinter den Spiegeln vorgelesen; daran konnte er sich deutlich erinnern, weil Stella Kim später zu Besuch gekommen war und ihm das Buch zusammen mit anderen Andenken an Miriam mitgebracht hatte. Aber das Buch über den Stier war mit ihm ins Internat gereist, er hatte sich daran festgehalten wie an einer Schmusedecke und schämte sich kaum dafür, als die anderen schon bei Detektivgeschichten und Wissenschaftsbüchern für Jungs sowie Comics und sogar ersten Playboy -Heften angekommen waren; er schämte sich kaum, weil er in Pendle Acre auch dann noch als »der Jüngste« galt, als er nicht mehr der Jüngste war.
Auf diese Weise als offizieller kleiner Bruder der ganzen Schule angesehen zu werden, verschaffte Sergius eine gewisse Freiheit. Seine Eltern waren gestorben, lange bevor er alt genug war, um zu fragen, wasdas eigentlich bedeutete, also wurde jeder Versuch, ihn zu verspotten, weil er das Buch über den Stier behalten hatte, im Keim erstickt. Wer weiß, wie das an einer anderen Schule gelaufen wäre? Im sanften Umfeld von Pendle Acre war der Spott zusammen mit Tommy und Miriam gestorben. Sollten die anderen – Mitschüler und Erzieher, Vertrauenslehrer und Rektor – ruhig glauben, das Buch wäre ein Talisman seiner toten Eltern. Im Gegensatz zum Alice- Band, der unberührt im Regal stand, war das Buch über den Stier in Wahrheit jedoch kein Andenken an seine Mutter oder an seine Eltern allgemein. Es hatte nichts mit ihnen zu tun. Es war vielmehr ein Talisman der einzigen Begegnung des Jungen mit Santa Claus.
Sein Erbe: voller Hippie und halber säkularer Jude. Angesichts dieser Tatsache und angesichts von Roses im Hintergrund immer mitschwingender vernichtender Verachtung aller Rituale und Zeremonien spielte Weihnachten für den Jungen keine große Rolle. Niemand verwöhnte ihn, das einzige Kind in dem Haus voller Erwachsener. Sie dachten einfach nicht daran. In der Kommune an der 7 th Street gaben die konsumorientierten und dekorativen Veränderungen, die im Dezember über die dunkler werdende Stadt hereinbrachen, nur Anlass zu Erbitterung und Spott, einige Zimmer standen eine Weile leer, weil ihre jüngeren Bewohner über die Feiertage zu ihren fernen Familien fuhren, und es wurden Kiffermahlzeiten veranstaltet, zu denen jeder etwas beisteuerte. Und ein rauschendes Neujahrsfest schwemmte dann alles fort.
Tommy und Miriam mochten historische Materialisten sein. Materialistisch eingestellt waren sie nicht. Noch bevor er verstand, was das Wort bedeutete, hatte der Junge gelernt, Eigentum zu verachten; eine Reihe von Aufforderungen wurde fast schon wie Gebote in ihm verankert: Du sollst nicht begehren
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