Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
Erinnerung aus dem abgebrochenen Leben, die jetzt unfreiwillig wiederhergestellt wurde. Doch auch das rann ihm wie Quecksilber durch die Finger, als bildeten der rissige Firnis der Geländerkurven und der wacklig gewordene und knackende Treppenpfosten nur ein ausgelaugtes Abbild seiner Mutter.
Als er sich ans Zwielicht gewöhnt hatte, standen ihm Tränen in den Augen. Aber er konnte noch erkennen, dass Murphy Stella Kim küsste und sein Bart sie im Gesicht kratzte. Das währte einen langen Augenblick, und dann führte Stella Sergius durch sein einstiges Zuhause. Eine neue Mitbewohnerin hatte jetzt das Zimmer im ersten Stock, das früher das von Tommy und Miriam gewesen war, eine gertenschlanke Blondine, die mitten im Zimmer saß und Querflöte übte. Das große Bett seiner Eltern war verschwunden und durch ihren Futon ersetzt worden, der tagsüber zu einer Couch vor dem Fenster zusammengerollt wurde. Im zweiten Stock lag Stellas Zimmer, das sich nicht verändert hatte, und Sergius’ ehemaliges Zimmer. Dieses war renoviert worden; keine Spur der zurückgelassenen Briefmarkensammlung oder der Bücher, die er nicht hatte retten können und deren Titel nun unwiederbringlich verloren waren. Andere waren hier ein- und wieder ausgezogen, und jetzt war der Raum das Reservezimmer der Kommune. Heute Nacht konnte Sergius hier schlafen. Ihm war nicht ganz klar, wo Murphy schlafen würde – den Rucksack hatte er einfach unten in der Diele abgestellt. Sergius versuchte, nicht zu verstehen. Die Kommune steckte voller Tücken und Falltüren, Zonen, die es zu meiden galt wie die LPs seiner Eltern, die jetzt zur allgemeinen Sammlung der Kommune gehörten, die er intakt an der Wohnzimmerwand aufgereiht sah. Was sich verändert hatte und was unverändert geblieben war, war gleichermaßen katastrophal.
Er fragte, ob er nach draußen gehen könne. Unter dem flammendroten Giebelglühen war auf der Straße schon stundenlang gespielt worden, und das würde mit Einbruch der Nacht nicht enden. Die hohen, dunkel werdenden Hausdächer versengten ihn mit der absoluten Gleichgültigkeit angesichts seiner Gegenwart. Sergius ging weiter, bis er zur Mündung einer Brache kam, wo er ein Kind traf, das er von früher kannte, nicht unfreundlich, aber auch kein richtiger Freund, aber nachdem das Kind gesagt hatte »Deine Mama ist gestorben und dein Dad auch« und Sergius genickt hatte, ließ die Sprache beide im Stich. Sie bekamen nicht mal Namen zusammen, mit denen sie sich hätten identifizieren können, ganz zu schweigen von Begriffen zur Beschreibung ihrer Beziehung, nachdem der Junge ausgesprochen hatte, was die Welt geteilt und sie beide an entgegengesetzten Enden stehengelassen hatte. Der Junge wurde zum Spiel zurückgerufen, als wäre Sergius unsichtbar, was er wahrscheinlich auch war oder gern gewesen wäre. Auf dem Rücksitz eines parkenden Kabrios spielte ein Mann mit bloßem Oberkörper Bongos. Auf dem auch nach Sonnenuntergang noch glühenden Asphalt warf das Kaugummi Blasen. Ohne ein Wort gesagt zu haben, ging Sergius wieder ins Haus.
Er wusste später nicht mehr, wer ihm die Tür aufgemacht hatte. Woran er sich erinnerte, war, dass er am Tag darauf in den Keller gegangen war, um den Mitbewohner zu suchen, der da unten hoffentlich noch wohnte, einen strubbeligen Filmstudenten von der NYU namens Adam Shatkin. Shatkin wohnte da noch, war zu Hause und freute sich, dass Sergius ihn besuchen kam. Er zeigte ihm Sachen, an die sich der Junge erinnerte, Bücher und Platten, die sie sich schon zusammen angeschaut und angehört hatten, als sie noch beide hier gewohnt hatten, darunter auch einen Raumschiff-Enterprise- Kalender, den Shatkin Anfang Januar mit Reißzwecken im Putz befestigt hatte und der jetzt auf August umgeblättert worden war, was Sergius daran erinnerte, wie wenig Zeit vergangen war. Oben in der Küche würfelte Shatkin Tofu für eine Gemüsepfanne, die sie sich mit dem Querflötenmädchen teilten; sonst war keiner zu Hause. Das hieß, keiner außer Stella Kim und Murphy, deren Geräusche zu sehr durch die Deckeins Wohnzimmer drangen, wo die drei am langen verschrammten Eichentisch der Kommune saßen: Murphys Gitarrenspiel, die Stimmen der beiden und andere Geräusche, die bald fast nur noch aus Murphys verletztem Flehen bestanden, was Sergius so zwar noch nie gehört hatte, was aber unverkennbar war. Sergius und Shatkin gingen in dessen Zimmer zurück und sahen sich auf dem kleinen Farbfernseher die allabendlichen
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