Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
Ersatz für ihre vollen Brüste, die sofort zu laktieren anfingen, als Stella und sie zur Tür hereingekommen waren und den Vater und das brüllende Kleinkind hörten. Die unerschütterliche Stella Kim stellte sich Tommy vor und zog dann verschmitzt lächelnd zwei weitere Gläser mit Gerber-Babybrei aus ihrer Makrameetasche, die sie anscheinend geklemmt hatte, als Miriam gerade die bezahlte, die sie zur Kasse mitgenommen hatte. Es gab kaum Tricks, die das Mädchen nicht schon kannte, und sie roch immer ein bisschen nach Weather Underground, auch wenn sie nur in enigmatischen Bemerkungen und flüchtigen Gesten darauf anspielte. Stella Kim ist es zum Beispiel, die Miriam beigebracht hat, als Wertmarken für die Subway Rohlinge zu nehmen, matte Metallscheiben, die aus Walzstahl gestanzt werden und beim Hersteller in Brooklyn zu bekommen sind – Stella hat genug Rohlinge im Sack, um einen Polizisten bewusstlos zu schlagen, und hat Miriam ganze Hände voll davon geschenkt. Mit einem solchen Rohling ist Miriam heute mit der Linie F in die Studios vom Rockefeller Center gekommen.
Im Gespräch mit Stella Kim hat sich Miriam, die berühmte Gedächtniskünstlerin,die sich an jeden Blödsinn erinnern kann, irgendwann auch dazu gezwungen, Farbe zu bekennen und sich brieflich um die Kandidatur bei der Quizsendung zu bewerben. Miriams irrwitzige Ungezwungenheit im Umgang mit Daten, Namen und Geographie beeindruckt ihre Entourage wahnsinnig, auch wenn sie selbst es für die naturwüchsige Hinterlassenschaft von Rose Zimmers Erziehung hält; mit weniger hätte sich Rose einfach nicht zufrieden gegeben, und wenn sie ehrlich ist, findet Miriam es nicht überraschend, dass sie diese Fähigkeit hat, sondern dass ihr Mann, seine Freunde und ihre Freunde sie nicht haben. Mit Stella hat sie eines Tages zu Hause gesessen und ihren Kleinen gehütet, der Fernseher lief, und unweigerlich platzte sie mit den Antworten heraus, Sekundenbruchteile bevor die Kandidaten antworteten, und auf Stellas Ermahnung hin – »Warum nicht ein bisschen Knete abgreifen, wenn du die Antworten sowieso alle parat hast?« – hatte sie nach einem Bleistift gegriffen und die von Art James verlesene Adresse mitgeschrieben: »Schicken Sie einfach eine Postkarte mit Ihrem Namen, Ihrer Adresse und Telefonnummer an die 3Ws, P. O. Box 156, New York 10019.« Stella weiß, wie dringend sie die Kohle brauchen, wo Tommy doch im Tal zwischen zwei Plattenverträgen feststeckt, das, wie Miriam insgeheim fürchtet, zu Lebzeiten womöglich nicht zu durchqueren ist.
Dass Stella diese Tatsache versteht, die Tommy selber vielleicht nicht versteht, ist für Miriam genauso unwesentlich wie ihre Begabung für Faktenwissen. Für sie läuft das vielleicht immer so: Das männliche Prinzip ist eine Art fernes Banner, das über ihrem Leben flattert und eine nie bestrittene Loyalität markiert, irgendwie aber auch immer esoterisch bleibt, plemplem. Während Miriams weibliche Vertrauten seit Lorna Himmelfarb, oder noch weiter zurück, und am stärksten Stella Kim, den Boden unter Miriams Füßen bilden, die Erde selbst. Möglicherweise sind sie sogar die Füße, durch die sich Miriam mit der Erde verbunden fühlt. Die sie in anderen wurzeln und sich verkörpern lässt. Und deshalb hat Miriam das Gefühl, sie sieht diesen heißen Typ, diesen Hipster-Werber Peter Matusevitch mit seinem Schnurrbart mitStellas Augen, genau wie den anderen, vielleicht nicht zufälligen Kandidaten dort im Greenroom, den untersetzten Buchhalter, der sich jetzt als Graham Stone vorstellt. Stone gibt Miriam die Hand und deutet eine Verbeugung an. Da sie weiß, wie rigoros sie selber durchleuchtet worden ist, bevor sie für den Auftritt im Wer-Was-oder-Wo-Spiel zugelassen wurde, weiß sie auch, dass sie keinen Gegner auf die leichte Schulter nehmen darf. Auch Stone hat ein anzügliches Glitzern in den Augen und unterm Kinn ein seltsames Schamhaartoupet als Bart, der vielleicht ein Doppelkinn verbergen soll, aber auch demonstriert, dass selbst ein Buchhalter ins Zeitalter des Wassermanns eintreten kann. Bis sich Art James im Greenroom zu ihnen gesellt, ist Miriam hier der einzige Mensch ohne Gesichtsbehaarung.
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Art James. Da niemand gegen die Mode seiner Zeit gefeit ist, trägt der gepflegte und glattrasierte Art James unter seinem maßgeschneiderten grauen Anzug ein blasslila Hemd und eine breite Krawatte, die von Klee oder Kandinsky entworfen worden sein könnte. Miriam hätte gern ein Kleid aus dem Stoff.
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