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Der Gast des Kalifen

Titel: Der Gast des Kalifen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Lawhead
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dreieckigen Segeln und langen Steuerrudern, die langsam durch das braune Wasser glitten. Wir kamen an winzigen Siedlungen vorüber, hinter denen sich lange grüne Getreidefelder erstreckten. So viel Siedlungen säumten das Flussufer, dass ich bald den Eindruck gewann, der ganze Weg nach Kairo bestünde aus einer einzigen Kette von Dörfern.
    Ich stand an Deck der Barke und schaute auf das Leben am Ufer, das sich wie ein großer, nahtloser Wandteppich vor mir entfaltete und mir jahrhundertealte Bilder dieses Flussreichs zeigte: drei Jungen, die aufeinem Esel ritten, welcher mit einem beachtlichen Berg an Palmwedeln beladen war; ein Mädchen mit einer Weidenrute in der Hand, das eine Gänseherde über die Straße scheuchte; zwei Frauen, die am Ufer Wäsche wuschen; Männer in kleinen, schwankenden Booten, die Netze auswarfen; ein Jüngling mit einer Stange über der Schulter, an der mehrere Dutzend getrocknete Fische hingen; lachende Mädchen, die Wasserkrüge auf ihren Köpfen trugen; ein Bauer, der mit einer Sichel Schilf schnitt, und nackte, dunkelhäutige Kinder, die fröhlich im Wasser spielten.
    Im selben Augenblick, da wir auf den Fluss hinausfuhren, schien sich alles, was vorher gewesen war, in der warmen, schweren Luft des fruchtbaren Tals aufzulösen. All die Leiden, die ich in den letzten Wochen hatte ertragen müssen, schrumpften angesichts der schier unglaublichen und alles durchdringenden Ruhe des Nils zur Bedeutungslosigkeit. Die Menschen und ihre Taten vermochten unmöglich den wunderbaren Frieden dieses Landes zu stören. Der Sturm des Krieges, der so viel Unheil unter den Menschen anrichtete, schien hier nur eine Böe zu sein, die kam und ging, verschluckt von einer Gelassenheit, die so alt war wie die Erde selbst. Ich stand an Deck der Barke und fühlte, wie ich mehr und mehr von der tiefsten Ruhe erfüllt wurde, die ich jemals empfunden hatte; doch hatte ich zugleich das Gefühl, dass der zeitlose Himmel selbst mit seinem Meer aus Sternen mir auf seiner ewigen Runde zurief: Auch dies wird vorübergehen.
    Von Anfang an wurde ich von den Menschen gut behandelt, in deren Obhut ich gegeben worden war. Vielleicht hatte man ihnen nicht die Umstände meiner Gefangenschaft erklärt. Doch andererseits, wie mein kleiner Wärter, Wazim Kadi, mir erklärt hatte, als ich in den Palast des Kalifen geführt worden war: »Die Seldschuken sind Barbaren. Das weiß jeder. Sie sind grobe Schläger aus dem Land der Rum, wo sie wie die Tiere umherwandern.«
    Von all den miteinander in Streit lebenden Völkern des Ostens betrachten sich die Sarazenen als das kultivierteste, und sie halten es für ihre Pflicht, ihre Tugenden und Sitten an jene weiterzugeben, die nicht so erleuchtet sind wie sie. Es könnte durchaus sein, dass die höflichen und zivilisierten Sarazenen beschlossen hatten, mir ihre Gastfreundschaft zu zeigen, nachdem sie erfahren hatten, was ich als Gefangener der Seldschuken hatte erdulden müssen.
    Dennoch verließ ich das Schiff mit einer gewissen Beklommenheit und betrat den hölzernen Kai des unglaublichen Gewirrs, das die Araber al-Quahirah nennen - die Siegreiche -, denn mit seinen unzähligen Versuchungen überwältigt Kairo all seine MöchtegernEroberer.
    Ich blickte über den Kai auf eine Schwindel erregende Flut aus
    schwitzenden Menschenleibern, die in der Mittagssonne glitzerten, und unwillkürlich zuckte ich zurück. Meine Gnadenfrist, wie Sahak es genannt hatte, bedeutete nur den Tausch eines Kerkers gegen einen anderen. Ich wusste nicht, was für eine Art Empfang mir die Sarazenen bereiten würden; ich wusste nicht, ob sie mich freilassen oder noch vor Sonnenuntergang dem Henker überantworten würden.
    Der Schwarze Stamm, das Heilige Kreuz unseres Erlösers, begleitete mich noch immer in dem Teppich, in den ich ihn gewickelt hatte. Das war das Einzige, was mir Mut machte; die heilige Reliquie spendete mir Kraft und Trost, während wir uns gefolgt von einem Zug von Trägern, die die Geschenke des Kalifen trugen, auf den Weg vom Fluss in die Stadt machten. Durch ein armseliges Viertel nach dem anderen zogen wir bis vor die eisernen Tore, welche die innere Stadt bewachten. Überall im Osten haben die Armen und Unglücklichen gehört, dass die Straßen von Kairo mit Gold gepflastert seien, und die Stadt kann sie nicht alle aufnehmen; also errichten sie ihre Hütten zwischen den Ufern des Nils und den hohen Stadtmauern, und jedes Frühjahr spült das Hochwasser die armseligen Behausungen hinweg.

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