Der Gast: Roman
Oder es zumindest versucht. Vielleicht hatte er es küssen wollen, aber nicht geschafft, es an die Lippen zu heben.
Aber vielleicht hat er es auch geküsst.
Vielleicht war Neal aus seinem Körper gesprungen wie ein Kampfpilot, dessen Flugzeug von einer Rakete getroffen wird …
Vielleicht ist er gerade in mir.
»Hi, Neal«, sagte sie im Geiste.
Oder in Sue.
Wenn er in Sue ist, dann hält er mich gerade in den Armen, bemerkte Marta. Er kann mich sehen, mich hören. Er kann meinen Körper spüren, gerade so, als würde er mich selbst umarmen.
Marta traten erneut Tränen in die Augen. »Werden wir es nie erfahren?«, fragte sie Sue.
»Ich glaub nicht.«
»Dann … müssen wir so leben, als wäre er in einer von uns.«
»Ich weiß.«
»Wir müssen zusammenbleiben.«
»Ja.«
»Und wir müssen … Sachen für ihn tun. Es so machen, dass es ihm richtig gut geht. Für alle Fälle.«
»Ja. Es soll schön für ihn sein.« Sue umarmte sie ganz fest.
Marta versuchte, mit dem Weinen aufzuhören. Nach einer Weile sagte sie: »Ich hoffe, dass er wirklich in dir oder in mir ist.«
»Bestimmt.«
»Wenn er in Glitt ist …«
»Wir müssen Glitt töten, so oder so. Neal würde es auch wollen, meinst du nicht?«
»Doch.«
»Ich glaub auch. Aber hör zu, ich will sicher sein, wo das Schwein ist. Deshalb küsse ich das Armband und statte ihm einen Besuch ab. Vielleicht merke ich dann, ob Neal auch in ihm ist.«
»Geht das?«
»Wer weiß? So etwas ist noch nie zuvor passiert. Zumindest nicht, dass ich wüsste.«
»Sei bloß vorsichtig, okay? Und bleib nicht lang weg.«
Sie lösten sich voneinander. Während Marta sich die Tränen aus den Augen wischte, entfernte sich Sue ein paar Schritte. Sie setzte sich auf den Beton, dann streckte sie sich auf dem Rücken aus. Ihr Rock klaffte in der Mitte, wo der Schleicher ihn aufgerissen hatte, weit auseinander. Sie zog die Kanten zusammen und klemmte sie zwischen die Beine. »Geh nicht rein, ehe ich zurück bin«, sagte sie.
»Darauf kannst du dich verlassen. Aber beeil dich. Bitte. Mir gefällt das nicht besonders.«
»Versuch, mir dieses Mal die Perversen vom Leib zu halten.«
»Ich probier’s.«
»Adios«, sagte Sue. Sie wandte den Kopf, hob den rechten Arm ein wenig und küsste das Armband. Sofort fiel der Arm auf den Beton.
»Komm schnell zurück«, flüsterte Marta.
10
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Sue hielt sich nicht mit der offenen Tür auf. Nachdem sie aus ihrem Körper aufgestiegen war, raste sie an der Rückwand des Hauses entlang. Es kam ihr vor wie eine halbe Sekunde, bis sie scharf nach links abbog und durch die Glastür des Schlafzimmers glitt, als wäre sie aus Luft.
Während sie über das Bett hinwegraste, sah sie einen Streifen Licht unter der Badezimmertür.
Wieso ist sie zu?
Sie bremste ab.
Hatte Glitt die Tür geschlossen, während sie in Vince gewesen war? Sie glaubte nicht. Allerdings war die Tür die ganze Zeit außerhalb ihres Blickfelds gewesen. Von Vinces Position in der Badewanne konnte man sie nicht sehen.
Glitt war ein- oder zweimal in diese Richtung verschwunden.
Zerbrich dir nicht darüber den Kopf, geh einfach rein und vergewissere dich, dass er drin ist.
Als sie jedoch auf die Tür zuschwebte, verspürte Sue den Drang, umzudrehen.
Sie hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, welchen Anblick Vince bieten würde; das musste sie nicht unbedingt sehen. Und das Letzte, was sie wollte, war, Glitt noch einmal zu sehen.
Sie wünschte, sie hätte ihn nie zu Gesicht bekommen.
Sein unheimlicher Anblick war schon schlimm genug, aber nun wusste sie auch noch einiges über seine perversen Neigungen. Bis vor Kurzem hätte sie nicht geglaubt, dass ein Mensch solche Gedanken haben, geschweige denn, sie an jemandem ausleben könnte.
Jetzt wusste sie es besser.
Auf der anderen Seite der Tür …
Sie schwebte davor, und ihre Furcht wuchs.
Los! Du kannst jetzt nicht kneifen!
Ächzend glitt sie durch die Tür. Das Bad war hell erleuchtet. Glitt und Vince waren außer Sicht; von ihrer Position aus konnte sie die Badewanne nicht einsehen.
Jetzt kommt’s …
Sue steuerte auf die Wanne zu. Auf dem Weg kam sie an ein paar Blutpfützen vorbei, an Vinces Schuhen, seinem Jogginganzug, dem Suspensorium.
Dann blickte sie in den Spiegel über dem Waschbecken.
Sie konnte sich selbst nicht sehen.
Die Unsichtbare …
Doch plötzlich erblickte sie die Spiegelung einer blutigen roten Gestalt, die ihre Arme ausgebreitet hatte, als wollte sie Sue um den Hals fallen. Sie
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