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Der Gast: Roman

Der Gast: Roman

Titel: Der Gast: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Laymon
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aufgerissen.
    Sie hörte Sue ein paarmal wimmern.
    Durch die erste Glastür blickte sie ins Haus. Es brannte nirgendwo Licht. Sie sah sich selbst wie in einem schwarzen Spiegel. Und sie sah Sue schräg hinter sich.
    Vom Wohnzimmer konnte sie nichts erkennen.
    »Ich kann nichts sehen«, flüsterte sie.
    »Die Gardinen sind zugezogen.«
    Marta hätte fast lachen müssen. Sie ging zum Türgriff und zog ihn mit der linken Hand schwungvoll zur Seite.
    Sie hatte erwartet, dass die Tür verschlossen war.
    Doch sie flog so schnell auf, dass ihr der Griff fast aus der Hand rutschte. Sie umklammerte ihn fest und brachte die Tür zum Stillstand.
    Sue kam näher, legte einen Arm über ihren Rücken und flüsterte in ihr Ohr: »Geh nicht rein. Warte kurz. Ich küss das Armband und sehe nach, ob Glitt wirklich noch im Bad ist.«
    »Nein.« Marta drehte sich zu ihr um. Sie beugte sich vor, bis ihre Körper sich berührten. »Wir sollten uns nicht trennen.«
    »Bleib bei mir. Wir machen es gleich hier.«
    »Aber dann wirst du weg sein, in Glitt oder so. Und ich bin allein mit deinem Körper.«
    »Versuch, dieses Mal besser drauf aufzupassen.«
    »Sehr witzig. Vergiss einfach das Armband, ja? Es könnte etwas schiefgehen.«
    »Wir müssen wissen, wo er ist.« Sue legte die Arme um Marta und drückte sie.
    Marta ließ die Pistole an der Seite ihres Beins herabhängen. Mit der linken Hand streichelte sie Sues Rücken. »Ich will dich nicht verlieren«, sagte sie. »Du bist alles, was ich jetzt noch habe.«
    »Du hast Neals Baby.«
    »Vielleicht.«
    Sue legte den Kopf in den Nacken und sah in Martas Augen. »Und vielleicht haben wir auch noch Neal.«
    »Nein«, sagte Marta. Ihre Kehle schnürte sich zusammen, und in ihren Augen brannten Tränen. »Du hast ihn doch gesehen. Er ist tot. Du hast gesagt, sie hätten noch nicht einmal versucht, ihn zu retten.«
    »Und was ist, wenn er das Armband geküsst hat, kurz bevor er gestorben ist?« Im Mondlicht sah Marta, wie Sue die Brauen hochzog. »Was ist dann?«
    »Ziemlich unwahrscheinlich.«
    »Aber es könnte sein.«
    »Hast du es gesehen?«
    »Nein. Aber wir haben ihn aus den Augen verloren, als er durch die Glasscheibe gefallen ist. Er könnte es danach getan haben.«
    Es klang ziemlich weit hergeholt. Allerdings galt das aus Martas Sicht für alles, was das Armband betraf. Sie konnte kaum glauben, dass so ein Ding überhaupt funktionierte. Sue hatte es bewiesen, weil sie die beiden Geheimnisse Martas kannte. Neal hatte es bewiesen, indem er die Sache mit dem Geld herausgefunden hatte.
    »Wenn er es geküsst hat«, sagte Sue, »dann könnte er seinen Körper verlassen haben und in jemand anderem sein. Vielleicht ist er gerade in jemandem. Falls er nicht zurück in seinen Körper gezogen wurde, als ich ihm das Armband abgenommen hab. Aber irgendjemand hätte es sowieso genommen. Ich dachte, wir sollten es haben. Das Problem ist, ich hab nicht daran gedacht, dass er damit bei jemandem zu Besuch sein könnte. Das ist mir gerade eben erst eingefallen. Deshalb dachte ich, für ihn wär es egal. Aber vielleicht war er auch schon tot, als ich es ihm abgenommen hab.«
    »Was spielt das für eine Rolle?«
    »Falls er tot war, konnte er nicht zurück in seinen eigenen Körper. Dann musste er jemand anderen finden, in dem er bleiben konnte.«
    »Bist du sicher?«, fragte Marta.
    »Genau genommen bin ich mir bei gar nichts sicher. Ich hoffe nur, dass er rechtzeitig rausgekommen ist.«
    »Kann man das irgendwie herausfinden?«
    Sue schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.«
    »Glitt war gleich in seiner Nähe. Was, wenn er in Glitt ist?«
    »Er würde nicht absichtlich in Glitt gehen. Kann ich mir jedenfalls nicht vorstellen. Es könnte höchstens aus Versehen passiert sein.«
    »Wenn wir Glitt töten und Neal in ihm ist …«
    »Ich vermute, dann würden wir auch Neal töten. Oder er wäre gefangen oder …«
    Marta stöhnte.
    »Wahrscheinlich ist er in dir oder in mir. Das würde ich jedenfalls tun, wenn ich an seiner Stelle wär und den Löffel abgeben müsste.«
    »Mein Gott«, flüsterte Marta.
    Dann schwiegen sie beide. Sie hielten sich gegenseitig fest. Marta spürte Sues Wärme, ihren Herzschlag, die Hitze ihres Atems. Und sie fragte sich, ob Neal tatsächlich in einer von ihnen weilte.
    Es kam ihr nicht gerade wahrscheinlich vor.
    Aber es schien möglich zu sein.
    Wenn er geistesgegenwärtig genug gewesen war, an das Armband zu denken, als er getroffen wurde, hatte er es bestimmt geküsst.

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