Der Gast: Roman
versuchte, sich zu beruhigen.
Es war schrecklich, Karen so durchdrehen zu sehen, dachte er. Was zum Teufel war bei ihr schiefgelaufen? Sie hatte offensichtlich Darren verloren. Auf eine Art, die sie sehr verletzt hatte. Wurde er umgebracht oder hatte er sie einfach fallen lassen?
Sollte er zurückgehen, um es herauszufinden?
Nein danke, sagte er sich.
Vielleicht war ihr Anfall mittlerweile vorbei.
Neal wollte es nicht riskieren.
Armes Mädchen, dachte er.
Doch eine Weile war es wunderbar gewesen, in ihr zu sein.
Wunderbar? Atemberaubend!
Mein Gott, sie hat sich vor mir ausgezogen!
Er sah auf das Armband an seinem Handgelenk.
Kein Wunder, dass Elise mich davor gewarnt hat, süchtig danach zu werden. Ich kann jeder beliebigen Frau einen Besuch abstatten und zusehen, wie sie sich auszieht, ein Bad nimmt oder mit jemandem ins Bett geht. Und ich sehe nicht nur alles, sondern ich spüre auch alles, was sie spürt.
Unglaublich, dachte Neal. Im wahrsten Sinne des Wortes unglaublich. Zu schön, um wahr zu sein.
Er konnte einfach nicht fassen, dass es so war, doch es war nicht zu leugnen. Das Armband löste nicht einfach lebhafte Träume oder Fantasien aus, es ermöglichte einem, in echte Menschen einzudringen. Was seines Wissens unmöglich war.
Unmöglich. Doch er war absolut sicher, dass er, wenn er in sein Auto stieg, zu seinem Wohnblock fuhr und Karens Wohnung fand, sie dort in Fleisch und Blut antreffen würde.
Neal saß am Steuer seines Wagens. Ich muss den Verstand verloren haben, dachte er immer wieder, seit er auf die Idee gekommen war.
Er wusste, dass er es nicht tun sollte.
Karen wäre wahrscheinlich nicht so begeistert, mitten in der Nacht überraschend von einem völlig Fremden besucht zu werden.
Und Neal hatte das Gefühl, Marta zu hintergehen.
Auch wenn er kein romantisches Erlebnis mit Karen erwartete oder herbeisehnte. Er konnte schon froh sein, wenn sie ihm überhaupt die Tür öffnete; die Chance, hereingebeten zu werden, tendierte gegen null.
Warum tue ich es dann?, fragte er sich.
Nur um nachzusehen. Um festzustellen, ob die Wirklichkeit mit meinen Erlebnissen übereinstimmt. Wenn ich nur einen Blick auf sie werfen könnte …
Ich brauche sie nicht zu sehen. Ich weiß, dass alles wirklich passiert ist. Und zwar genau so, wie ich es erlebt habe. Das ist also Blödsinn.
Aber ich will es tun.
Ich tue es.
Ich muss den Verstand verloren haben.
Ein paar Minuten nachdem er bei Marta losgefahren war, kam er an seiner Wohnanlage vorbei. Er bog um die Ecke und dann in die Gasse hinein. Er fuhr langsam. Vor ihm war niemand. Zumindest konnte er niemanden entdecken. Keinen Müllsammler, der mit seinem Einkaufswagen herumstromerte, keinen Schleicher, der sich mit Schlapphut und Umhang in den Schatten herumdrückte. Keinen Rasputin.
Er fragte sich, wo Rasputin sein könnte.
Als er an seinem Parkplatz an der Rückseite des Gebäudes vorbeifuhr, bremste er ab und kam fast zum Stehen.
Ich könnte schnell hochlaufen und nachsehen, dachte er. Wenn das Schwein da ist, kann ich ihn wegpusten …
Vielleicht später.
Vielleicht nie.
Ich muss ihn erwischen, ehe er mich erwischt, sagte sich Neal.
Ja, aber das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Er ist sowieso nicht da.
Soll ich kurz mit dem Armband vorbeischauen?
Deswegen bin ich nicht hergekommen. Ich bin gekommen, um nach Karen zu sehen.
Er fuhr weiter, doch er hatte ein schlechtes Gewissen deswegen. Er wusste, dass er in seine Wohnung gehen sollte. Wenn er sich davon fernhielt, wie sollte er dann Rasputin jemals erwischen?
Ich versuche es später, sagte er sich. Immer der Reihe nach. Erst überprüfe ich, ob mir das Armband nur etwas vorgaukelt. Dann kann ich mir sicher sein.
Ich bin mir jetzt schon sicher.
Nein, nicht hundertprozentig. Das wird endgültig den Beweis erbringen. Dann werde ich nicht mehr zweifeln.
Er fuhr an dem nächsten Gebäude vorbei. Das darauffolgende war vermutlich Karens Haus. Die Parkplätze davor waren alle belegt. Neal hielt dahinter, dicht an der Hauswand, sodass er niemanden behinderte. Er schaltete die Scheinwerfer und den Motor ab.
Dann stieg er aus und überquerte die Gasse. Er sah an der verputzen Hauswand hinauf.
Ist es hier?, fragte er sich.
Er war versehentlich in Karens Wohnung gelangt, als er dem Obdachlosen hatte ausweichen wollen.
Die Mauer sah genauso aus.
Er blickte zu beiden Seiten und versuchte, die Entfernung zu seiner eigenen Wohnung und zu der Stelle, wo er dem Penner mit dem
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