Der Gast: Roman
einfach, ich komme kurz vorbei, wenn ich sowieso schon hier in der Nähe bin.«
Plötzlich ging über der Tür eine Lampe an. »Warte einen Moment«, sagte Karen. Die Tür öffnete sich, bis die Sicherheitskette sie blockierte. Karen blickte durch den zehn Zentimeter breiten Spalt heraus.
Es ist tatsächlich Karen.
Sein Besuch war kein Traum gewesen. Es war die Leserin, es war Karen. Daran gab es keinen Zweifel.
Ihre Augen unter der Brille waren vom Weinen rot und geschwollen. Sie trug das weite weiße T-Shirt. Neal fragte sich, ob sie es schnell angezogen hatte, als sie das Klopfen gehört hatte.
»Haben wir uns schon mal gesehen?«, fragte sie.
Er errötete. »Ich glaube nicht.«
»Bist du sicher? Du kommst mir … ich weiß nicht … irgendwie bekannt vor.«
»Du mir auch.« Neal lächelte. Er war zwar immer noch nervös, doch es freute ihn, dass er die Wahrheit sagen konnte. Sie wirkte wirklich vertraut.
»Du heißt Neal?«, fragte sie.
»Genau. Neal Darden.«
Mein Gott, ich habe ihr meinen richtigen Namen gesagt. Bin ich durchgedreht?
»Also«, sagte er, »ich wollte nur mal vorbeischauen. Ich wollte dich schon immer mal kennenlernen, deshalb dachte ich, ich nutze die Gelegenheit, da ich gerade in der Gegend bin. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.«
Sie sah ihn an und schniefte.
»Ich gehe jetzt wohl besser wieder. Ich wollte nur mal Hallo sagen und …«
»Nein, warte.« Sie schloss die Tür. Neal hörte die Kette rasseln. Dann wurde die Tür weit geöffnet. Karen machte einen Schritt zurück und sagte: »Komm rein.«
Er zögerte. »Ich weiß nicht. Es ist schon spät und …«
»Bitte.« Sie ging zur Stehlampe und schaltete sie an.
Neal trat in das helle Wohnzimmer.
Das Wohnzimmer.
»Einen Moment kann ich ja bleiben«, sagte er und schloss die Tür.
Auf dem Beistelltisch lag das Buch, Der wilde Korsar, genau dort, wo Karen es hingelegt hatte, ehe sie ins Schlafzimmer gegangen war.
»Was möchtest du trinken?«, fragte sie. »Eine Cola? Oder soll ich lieber einen Kaffee kochen …« Karen zuckte die Achseln. Sie wirkte nervös und zappelig, schien sich aber über den Besuch zu freuen.
»Ach nein, danke.«
»Wirklich nicht?« Sie wedelte aufgeregt mit den Armen.
Das ist so sonderbar, dachte Neal.
Durch seinen Besuch bei Karen war bewiesen, dass das Armband wirklich funktionierte, doch es war ein sehr merkwürdiges Gefühl.
Gerade eben war er noch in ihr gewesen. Er hatte mit ihr das Buch gelesen. Er hatte alles gesehen, was sie gesehen hatte, alles gefühlt, was sie gefühlt hatte, und die Szenen gesehen, die sich in ihrer Fantasie abgespielt hatten. Er hatte beobachtet, wie sie sich ausgezogen hatte, um ihren weißen Bikini anzuprobieren. Er war sogar stiller Zeuge ihrer Erinnerung an Darrens Ding zwischen ihren eingeölten Brüsten geworden.
Und da sind sie nun, dachte er.
Durch das T-Shirt konnte er ihre Umrisse erkennen. Er wandte den Kopf ab.
»Geht’s dir gut?«, fragte Karen.
Er zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, ich habe ein bisschen Fieber.«
»Soll ich dir ein paar Aspirin holen?«
»Ich sollte jetzt besser gehen.«
»Nein, setz dich und ruh dich einen Moment aus.« Sie zeigte auf das Sofa.
»Also gut …« Neal ging hinüber und setzte sich.
»Trink doch wenigstens eine Cola.«
»Okay.«
Sie eilte davon. Neal seufzte erleichtert, als sie aus seinem Blickfeld verschwand.
Was zum Teufel tue ich hier?, fragte er sich. Ich habe herausgefunden, dass es sie wirklich gibt. Nur deswegen bin ich hergekommen.
Verschwinde jetzt. Und zwar schnell.
Nein, nein, das kann ich ihr nicht antun.
Wäre es schlimmer, als hierzubleiben?
Er war bereits in ihre Privatsphäre eingedrungen – hatte ihre Privatsphäre zerstört .
Zu bleiben war in gewisser Weise, als würde er mit ihr spielen. Wenn er einfach weglief, wäre sie verletzt, verwirrt und vielleicht auch verängstigt.
Wie ich es auch mache, es ist immer falsch, dachte er.
Nicht unbedingt.
Sei nett zu ihr, höflich, spiel das Spiel zu Ende und sorge dafür, dass sie deinen Besuch in angenehmer Erinnerung behält.
Und lass sie nicht herausfinden, dass du ein Betrüger bist!
19
19
Kurz darauf kam Karen mit zwei Gläsern Cola zurück ins Wohnzimmer. Sie ging vorsichtig. Zwischen den Gläsern wackelten ihre Brüste ein wenig. Die Eiswürfel klimperten.
Das T-Shirt war zwar sehr lang, aber es reichte trotzdem nur bis zur Mitte ihrer Oberschenkel.
Neal zwang sich, ihr ins Gesicht zu blicken.
Sie errötete;
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