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Der Gastprofessor

Der Gastprofessor

Titel: Der Gastprofessor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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drüben Osten sein muß.«
    »Du mußt berücksichtigen, daß das jetzt die Wintersonne ist, Sheriff«, wendet Norman ein, der spindeldürre Hilfssheriff, der den Demonstranten geübt die Fingerabdrücke genommen hat, als sie mit dem Bus angekommen waren. »Das heißt, Osten muß fast haargenau da sein, wo der Wasserkühler steht.«
    »Sie haben mich nach meiner Meinung gefragt, und ich hab sie Ihnen gesagt«, wendet sich der Sheriff gereizt an den Rebbe. »Jerusalem liegt scheint’s ein Stück links vom Wasserkühler, eher mehr auf der mittleren Reihe von den Steckbriefen an der Tafel. Aber denken Sie, was Sie wollen, ich hab noch was anders zu tun als wie rauskriegen, wo Jerusalem liegt, nämlich zum Beispiel einen Serienmörder fangen.«
    »Mhm«, stimmt Norman zu.
    »Also, sicherheitshalber würde ich sagen«, meint Rebbe Nachman diplomatisch, »die Wahrheit liegt in der Mitte zwischen Ihnen beiden.«
    Der Rebbe schlendert in seinen Käfig zurück, verwandelt ein Halstuch in einen Gebetsschal, bedeckt sein Haupt mit einem an den vier Ecken verknoteten Taschentuch und beginnt, das Gesicht in die mutmaßliche Richtung Jerusalems gewandt, sein Abendgebet zu verrichten. Er verneigt sich, richtet sich wieder auf, blickt ab und zu über seine linke Schulter, ob die Kosaken kommen, und intoniert einen Singsang: »Baruch atah adonai, eloheinu melech ha’olam, ascher bidvaro ma’ariv aravim uvebechechmahpoteach sche’arim ubitvunah et ha’emanim …«
    Die Footballspieler und die Cheerleader, die auf Matratzen aus den Katastrophenbeständen der Kreisverwaltung kampieren, singen eine leicht verjazzte Version von »We shall overcome«, verlieren aber bald die Lust und probieren es mit schlüpfrigen Limericks. »There once was a cockney from Boston. « rezitieren sie mit Stimmen, die an den nicht jugendfreien Stellen unhörbar werden. Nach jedem Limerick brechen sie in wüstes Gelächter aus.
    Der baptistische Geistliche sitzt auf einer Bank vor den Zellen und liest das Markusevangelium aus einer kleinen in Leder gebundenen Bibel vor. ». und sie kamen zum Grabe, da die Sonne aufging. Und sie sprachen untereinander: Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür?«
    In einer Ecke des mittleren Käfigs sitzen ein Dutzend Studenten höherer Semester mit den drei Bibliothekaren der Backwater University, D. J. und einem halben Dutzend Universitätsdozenten im Kreis um Professor Holloway herum, der ein Seminar über etruskische Votivkunst abhält.
    Word Perkins, der nicht weit davon auf einer Matratze vor sich hingedöst hat, stützt sich auf den Ellbogen auf, unterdrückt ein Gähnen, rückt sein Hörgerät zurecht und hört eine Zeitlang zu. »Darf man mal eine Frage stellen, Professor?« unterbricht Word Perkins. »Is ja echt intressant, was Sie da erzähln, und ich will um Himmels willen nix anders nich behaupte, aber wieso beschäftigen Sie sich mit rußkischer Kunst, wo sie doch so tief is?«
    »Amerika ist ein Land, in dem wirklich jeder eine Frage stellen darf«, sagt D. J. trocken. »Und es auch tatsächlich tut.«
    In dem Käfig, der Jerusalem am nächsten liegt, nicht weit von der Stelle, wo der Rebbe betet, diskutieren Lemuel und vier Kollegen vom Institut für fortgeschrittene interdisziplinäre Chaosforschung leise und angeregt über Chaostheorie. »Jedesmal wenn ich einen Artikel lese, in dem die Ursprünge des Chaos auf die Ursprünge des Universums zurückgeführt werden«, klagt einer der Wissenschaftler, »überkommt mich das flaue Gefühl, daß es sich um ein sinnloses Unterfangen handelt. Was macht es schon aus, ob das Chaos vor oder nach dem Urknall entstanden ist? Das einzig wichtige ist doch wohl, daß es existiert.«
    »Schma jisrael adonai eloheinu, adonai echaaaddd …« intoniert der Rebbe; er hält sich die Hand über die Augen und zieht die letzte Silbe des hebräischen Wortes »eins« in die Länge.
    »There once was an orphan of Killarney …«
    »Und sie sahen dahin«, murmelt der baptistische Geistliche, »und wurden gewahr, daß der Stein abgewälzt war.«
    In der mittleren Zelle setzt sich Word Perkins auf und spricht D. J. direkt an. »Das Dumme bei Eierköpfen – ja? is, daß sie denkn, wenn sie was wissen, gehört ihn das, was sie wissen.«
    »Die Ursprünge des Chaos«, doziert Lemuel, »können uns viel über das Wesen des Chaos verraten. Hat der Urknall, in einer Mikrosekunde unberechenbarer Launenhaftigkeit, das Chaos gezeugt? Oder war der Urknall selbst determiniert, aber

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