Der Gastprofessor
Norman.«
»Mhm.«
Im Dunkeln greift Rain unter Lemuels Decke und streichelt ihm die Fingerknöchel. »Hey, du glaubst nicht wirklich an Tolstois verschlüsselte Mitteilung an Sonja, oder?« Sie berührt mit den Lippen sein Ohr und zitiert: »›Ihre Jugend und Ihr Verlangen nach Glück erinnern mich nur allzusehr an mein Alter und meine Unfähigkeit zum Glück.‹«
»Doch, ich glaub daran«, murmelt Lemuel nach einem Weilchen. »Du bist ein Gebilde meiner Phantasie.«
Rain legt den Kopf an seine Schulter. »Und wie ist es bei Tolstoi und Sonja ausgegangen?«
»Es hat bös geendet. Sie haben sich fast während ihrer ganzen Ehe gegenseitig zerfleischt.«
»Oh.«
»Am Schluß ist er davongelaufen und auf einem Bahnhof irgendwo in der hintersten Provinz gestorben.«
Rains Stimme klingt höher als sonst; ihr wird bewußt, daß sie das erste intellektuelle Gespräch ihres Lebens führt. »Nach dem, was D. J. sagt, war dieser Typ, der Tolstoi, ein falscher Fuffziger, hat gern den Armen gespielt und Bauernhemden getragen, aber die hat er jeden Tag gewechselt, die getragenen wurden von Dienstboten gewaschen und gebügelt. Du bist kein falscher Fuffziger, L. Falk. Ein Mädchen könnte sich glücklich schätzen, mit einem wie dir zusammenzusein.«
»Du kennst mich nicht«, stöhnt Lemuel. »Was du siehst, ist nicht, was du kriegst. Es gibt Teile von mir, zu denen du noch nicht vorgedrungen bist. es gibt Teile von mir, zu denen ich noch nicht mal selber vorgedrungen bin.«
»Hey. Ich hab nichts gegen einen kleinen Abstecher hie und da, ja?«
»Jeder liebt die Reise«, entgegnet Lemuel ärgerlich, obwohl er sich eigentlich über sich selbst ärgert. Er bemerkt, daß er sich schon wieder mit Daumen und Mittelfinger die Augen massiert. »Aber das Ankommen verursacht einem Migräne.«
Lemuel kann nicht einschlafen, ist aber zu zerstreut, um die Nacht zu nutzen. Dunkle Gestalten bewegen sich ruhelos auf den Matratzen und erinnern ihn an die Besserungsanstalt, in die er gesteckt wurde, nachdem seine Eltern Scherereien mit dem KGB bekommen hatten. Er wollte, er könnte sich erinnern, wo und wann er die Ausbildungsvorschrift der Royal Canadian Air Force verloren hat. Er wollte, er könnte sich erinnern, warum er sich nicht einmal mehr an so was Simples wie den Verbleib eines Buches erinnern kann. Wenn er es könnte, würde ihm vielleicht eine Last von den Schultern genommen.
Wenn.
Wenn. Sein ganzes Leben scheint auf Pfeilern aus Wenns aufgebaut zu sein, die in den Treibsand unsteter Erinnerungen gerammt wurden.
Seine Gedanken schweifen zu Rain ab. Er versucht ihre Liebesnacht zu rekonstruieren, herauszufinden, was zuerst war und was danach kam, und merkt, wie er sich in einen erotischen Wachtraum hineinziehen läßt. Eine Hand kommt unter seine Decke gekrochen, findet seine Hand und fängt an, seinen Daumen zu streicheln, als könnte der dadurch länger und dicker werden. Eine Stimme haucht ihm was ins Ohr.
Yo! Du warst total super heute morgen. Wie du dich auf die Rampe gelegt hast … Du hättest ums Leben kommen können … Dafür kriegst du jetzt dein Dessert, du hast dir’s verdient.
Lemuel, der nicht Sex im Sinn hat, sondern Essen, hört sich sagen: Ich hab ja noch nicht mal das Hauptgericht gehabt.
Die Stimme, die nicht Essen im Sinn hat, sondern Sex, murmelt: Wir beginnen das Festmahl trotzdem mit dem Dessert. Nimm’s als das Vorspiel, das danach kommt.
Lemuel hört, wie sich jemand an einer Thermosflasche zu schaffen macht. Er hört Kräutertee in eine Tasse gluckern. Er hört jemanden trinken. Dann lehnt sich ein Körper an ihn, eine Hand findet seine Hand, ein angewärmter Mund schließt sich über seinem Daumen und fängt an, ihn mit Zunge und Lippen zu liebkosen.
Nach einer langen, langen Zeit vergeht die Wärme, der Mund zieht sich zurück. Wieder läuft Kräutertee in eine Tasse und wird getrunken. In der stillen Dunkelheit meint Lemuel zu hören, wie sich jemand mit der Flüssigkeit den Mund spült. Eine Hand gleitet zu seinem Hosenschlitz hinunter und zieht den Reißverschluß auf. Eine Stimme haucht ihm ins Ohr.
Hey, hier kommt das Hauptgericht, sagt sie.
Es dämmert Lemuel, als sich der Mund über einem Teil von ihm schließt, zu dem er bisher noch nicht vorgedrungen ist, daß es doch kein Traum ist.
Der Gerichtsdiener verliest die Namen und hakt sie auf seiner Liste ab.
»Starbuck, D. J.«
»Anwesend.«
»Perkins, Word.«
»Anwesend, hm?«
»Holloway, Lawrence
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