Der Gastprofessor
die rechte?«
Lemuel beäugt ohne sonderliche Begeisterung die beiden Brüstchen. »Links. Rechts. Eins von beiden.«
Mit den Fingerspitzen legt der Rebbe ein Perlhuhnbrüstchen auf den Teller und setzt diesen seinem Gast vor. Er fängt an, sich selbst aufzulegen.
»Meine Startrampe für den Aufsatz – ich setze voraus, daß Sie das interessiert – ist die Geschichte vom Sündenbock, ich spreche von Leviticus 16, Vers 8 bis 10.« Er legt den Kopf schief, schließt die Augen, zwirbelt zerstreut eine seiner Schläfenlocken mit der Fingerspitze und rezitiert aus dem Gedächtnis: »Und Aaron soll das Los werfen über die zwei Böcke; ein Los dem Herrn und das andere dem ledigen Bock. Und soll den Bock, auf welchen des Herrn Los fällt, opfern zum Sündopfer. Aber den Bock, auf welchen das Los des ledigen fällt, soll er lebendig vor den Herrn stellen, daß er ihn versöhne, und lasse den ledigen Bock in die Wüste.«
Der Rebbe stellt seinen Teller hin, schaltet das Motorola ein, dreht am Senderknopf, bis er das Klassikprogramm aus Rochester gefunden hat, und setzt sich zu Lemuel an den Tisch. Er dreht den Kopf zum Radio, hört einen Moment zu und identifiziert das Stück.
»Das würde ich mit verschlossenen Ohren erkennen. Es sind Ravels Valses nobles et sentimentales. Diese Musik verfolgt mich – sie kam im Radio in der Nacht, in der ich meine Kirsche verloren habe.«
Im Rhythmus der Musik mit dem Kopf wackelnd, schenkt der Rebbe sorgsam Wein aus einer Flasche mit dem Etikett Puligny Montrachet in zwei langstielige Kristallgläser und stößt mit seinem Gast an. »Lechaim« , grollt er. Er schließt die Augen, nimmt einen Schluck, kostet, schluckt, nickt zufrieden. »Vielleicht noch ein bißchen jung, ich hätte ihn noch ein, zwei Stunden länger atmen lassen sollen, einen guten Wein kann man nicht früh genug aufmachen, aber so einen kriegt man nicht mal bei Manishewitz. Was den Sündenbock angeht«, fährt er mit vollem Mund fort, »da gibt es eine jüdische Legende über Asasel – manche bezeichnen ihn als gefallenen Engel, andere sagen, er war ein Dämon, aber wie auch immer, die Geschichte bleibt dieselbe. Jedes Jahr an Jom Kippur wurden zwei Ziegenböcke durch das Los ausgewählt, einer für den Herrn, der andere, als Sündenbock, für Asasel. Der Hohepriester – ich beneide ihn nicht um diese Aufgabe übertrug alle Sünden des jüdischen Volkes auf den Sündenbock, woraufhin das Tier, zweifellos taumelnd unter der Bürde auf seinem Rücken, in die Wüste gejagt und über eine Felswand in den Tod getrieben wurde.«
Der Rebbe mustert Lemuel über das Perlhuhnbein hinweg, das er benagt. »Wahrscheinlich fragen Sie sich – eine durchaus legitime Frage, die Sie ungescheut stellen sollten –, welches verschlüsselte Signal Jahwe den festangestellten Wissenschaftlern und Gastdozenten am Institut für fortgeschrittene interdisziplinäre Chaosforschung sendet, wenn Er festsetzt, daß der Bock durch das Los bestimmt werden muß, also mit anderen Worten durch den Zufall. In meinem Aufsatz stelle ich die These auf, daß wir Leviticus 16, Vers 8 vielleicht als Kernstück der Thora verstehen sollten, wichtiger noch als das Manifest des Monotheismus in Deuteronomium 6, Vers 4: › Schma jisrael adonai eloheinu, adonai echaaaad … Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist ein einiger Herr.« In Leviticus 16, Vers 8 gibt Jahwe, sonst ein ausgebuffter Pokerspieler, der sich nie in die Karten schauen läßt, also dort gibt Jahwe seine Absichten zu erkennen. Er will uns überreden, uns mit dem anzufreunden, was für uns wie Zufälligkeit aussieht, und auch, insoweit als Seine Zufälligkeit ein Fußabdruck des Chaos ist, mit dem Chaos. Wenn ich auf der richtigen Fährte bin, und ich glaube, das bin ich, dann will Er, daß wir lernen, mit dem Chaos zu leben, selbst wenn uns dabei unbehaglich zumute ist.«
»Ich verstehe nicht.« Lemuel blinzelt. Er setzt noch einmal an. »Wie kann man denn mit etwas leben, wenn einem dabei unbehaglich zumute ist?«
Der Rebbe holt mit dem Fingernagel ein Stück Perlhuhnfleisch zwischen zwei Zähnen hervor. »Es wird möglich, wenn man begreift, daß erst das Chaos dem Leben Pfiff gibt.«
Er sieht aus einem Winkel von Lemuels blutunterlaufenen Augen eine einzelne Träne hervorquellen. Verlegen zieht er sich die Brille vom Gesicht, haucht geräuschvoll die Gläser an und beschäftigt sich damit, sie mit seiner Serviette blankzureiben.
»Wie finden Sie in Speckstreifen gebratenes
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