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Der Gastprofessor

Der Gastprofessor

Titel: Der Gastprofessor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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Perlhuhn?« fragt er, bestrebt, ein unverfänglicheres Thema anzuschneiden. »Kennen Sie den jiddischen Witz über das Perlhuhn? Wenn ein Jude ein Perlhuhn ißt, wird einem von beiden schlecht.«
    Keiner von beiden lacht.
    Seufzend lehnt sich der Rebbe zurück und konzentriert sich auf die Musik aus dem Radio. »Sind Sie seit Ihrer intellektuellen Hedschra vielleicht schon einmal auf Ravels Maxime gestoßen?« Als Lemuel die Schulter hochzieht, zeigt der Rebbe ein schiefes Lächeln. »Ordnung. Routine. Chaos. Joie de vivre – das ist seine Maxime.« Plötzlich brennen seine talmudischen Glotzaugen in epochaler Erleuchtung. »Könnte es sein. meinen Sie, daß es im Bereich des Möglichen liegen könnte?«
    »Daß was sein könnte? Daß was im Bereich des Möglichen liegt?«
    Der Rebbe schlägt sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Ich könnte mich in den Hintern beißen, daß ich das nicht eher begriffen habe, und ich könnte mich noch zusätzlich in den Hintern treten dafür, daß ich es jetzt begreife, denn wer möchte schon, daß ihm so eine Erkenntnis im Hirn herumspukt?«
    »Was denn für eine Erkenntnis, um Gottes willen?«
    »Das Evangelium nach Ravel weist auf eine merkwürdige Schlußfolgerung, nämlich daß das Chaos nicht die Box ist, sondern nur ein Halt an der Box.«
    Hingerissen von der bestechenden Logik seiner Theorie, springt der Rebbe auf und umkreist mit dem Hühnerbein fuchtelnd seinen Gast. Seine Schläfenlocken tanzen.
    »Hier stehen wir, fünftausendsiebenhundertzweiundfünfzig Jahre steinigen Weg seit der Schöpfung und dem Garten Gottes hinter uns – das sind, rechnen Sie mit, dreitausenddreihundertvier Jahre, seit Jahwe dem ersten jüdischen Bergsteiger, der den Berg Sinai erklomm, höchstpersönlich die Liste der Ge- und Verbote ausgehändigt hat –, und sind immer noch blind für die Moral in Ravels Musik, taub für das Menetekel. Bedenken Sie die Möglichkeit, fast bin ich geneigt zu sagen, die Wahrscheinlichkeit, daß Sie gar nicht schiefgelegen haben, als Sie diesen unverschämten Vortrag vor den festangestellten Wissenschaftlern und Gastdozenten des Instituts hielten und Ihre Zuhörer allesamt vor den Kopf stießen mit der Andeutung, das Chaos sei womöglich nur eine Zwischenstation.«
    Das bestickte Scheitelkäppchen rutscht dem Rebbe vom Kopf. Er fängt es in der Luft auf. »Der eigentliche Endpunkt«, fährt er fort, das Hühnerbein in der einen, das Käppchen in der anderen Hand, »davon steigt mir etwas in die Nase, wenn ich die Thora lese, oj, ich spür’s in den Eingeweiden, ich spür’s in den Lenden, der eigentliche Endpunkt könnte Joie de vivre sein! Oj, Lemuel, Lemuel«, krächzt er, getragen von einer Woge der Begeisterung, »bedenken Sie auch die Möglichkeit, und hier flirte ich mit der Ketzerei, aber was soll’s, ich nehm’s auf mich, daß joie de vivre vielleicht nur eine Phantasie ist, die die Franzosen als reine, unverfälschte Zufälligkeit betrachten.«
    Schwer atmend und verlegen grinsend, die Arme weit ausgebreitet, die Handflächen nach oben gedreht, entfernt sich der Rebbe rückwärts von seinem Gast – und distanziert sich von seinem Einfall. »Das war natürlich nur hypothetisch gesprochen. Jeder Trottel weiß, daß im innersten Herzen von Brooklyn kein Platz für reine, unverfälschte Zufälligkeit ist.«
    Heiser flüstert Lemuel: »Sie haben fast das Gelobte Land erreicht, Rebbe. Machen Sie jetzt um Himmels willen keinen Rückzieher. Ich kann zu Ihnen sagen, Jahwe ist nicht so verkrampft, wie Sie denken. Schwimmen Sie mit dem Strom. Wagen Sie den Sprung.«
    Der Rebbe schaut, als hätte er Speck verschluckt. »Von was für einem Sprung reden Sie?«
    »Vom Sprung des Glaubens. Es muß reine, unverfälschte Zufälligkeit geben, sonst hat alles keinen Sinn. Und wenn es sie gibt, muß sie das Werk Gottes sein. Hey, sie ist Gott!«
    »Sie sind nicht mehr ganz bei Tröste«, erklärt der Rebbe, im Zimmer auf und ab gehend. »Wäre reine, unverfälschte Zufälligkeit alias joie de vivre wirklich der Endpunkt, dann würde das Leben von saftigsten Alternativen nur so strotzen. Vor einem solchen Überangebot würden wir verrückt werden, von hungrig ganz zu schweigen. Niemand würde mehr etwas zustande bringen. Maler würden vor Schreck über die unendliche Vielfalt der Möglichkeiten zu malen aufhören, Architekten würden nicht mehr bauen, Mädchen würden sich nicht mehr überreden lassen, mit Jungen ins Bett zu gehen, Sie, Lemuel, würden nie wieder ein

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