Der Gastprofessor
voller falscher Zähne oder Elfenbein-Dildos oder abgeschnittener Finger- und Zehennägel, ein Koffer vollgestopft mit verblichenen Pornofotos von Erwachsenen bei unhöflichem oralen Sex.
Was hat das alles zu bedeuten? Sind die Morde wirklich chaosbezogen, wie Lemuel vermutet? Werden ihn die verschlungenen Fäden der Pseudo-Zufälligkeit zum chaotischen Ursprung der Verbrechen führen? Werden sie ihn zu dem einen Detail führen, das des Rätsels Lösung bringen und den Täter verraten wird? Überzeugt, auf der richtigen Spur zu sein, ackert er weiter, durchstöbert das Leben der Opfer mit der unbeirrbaren Ausdauer von jemandem, der die Dezimalstellen von Pi bis ins Unendliche berechnen will.
Mitternacht ist längst vorbei, als die getippten Buchstaben in den Akten allmählich vor Lemuels Augen verschwimmen. Er schlendert in die Küche, läßt das Wasser eine Minute laufen, bevor er ein Glas unter den Hahn hält und es austrinkt. (Alte Gewohnheiten sind zählebig; in Petersburg mußte man das Wasser vier bis fünf Minuten laufen lassen, um dem Rost zu entgehen.) Wieder im Wohnzimmer, unterdrückt er ein Gähnen, schaltet den Sony ein und erwischt noch das Ende der Nachrichten in WHIM.
». vom Wetter wird an diesem vorletzten Apriltag nichts zu sehen sein. Falls du zuhörst, Charlene, Schatz, könntest du schon mal das Schlauchboot aufblasen und zu Wasser lassen. Blue skies up above, everyone’s in love, up a lazy river with meeeee. Mhm. Die hinter der Scheibe fangen an zu gestikulieren, das heißt, wir haben einen Anruf von einem unserer Stammkunden. Hallo.«
»Tja, ich hab zufällig das Radio angehabt, ja? Und deshalb hab ich gehört, wie du Charlene gesagt hast, sie soll das Boot zu Wasser lassen.«
»Hey, wo hast du denn gesteckt? Wir haben seit Wochen nichts von dir gehört. Was hast du gemacht?«
»Ich hab mir Flicken auf meine durchsichtigen Blusen genäht.«
Lemuel gibt es einen Stich. Er erkennt die Stimme der Anruferin. Er geht vor dem Radio in die Hocke, macht es lauter.
»Und, was hast du heute abend auf dem Herzen?«
»Nichts hab ich auf dem Herzen. Es ist nur, das Wort ›Boot‹ hat mich nostalgisch gemacht.«
»Hattest du ein Boot, als du klein warst?«
Rain schnaubt verächtlich. »Ich? Ein Boot? Hast du eine Ahnung! Ich kann noch nicht mal schwimmen.«
»Kapier ich nicht, wie du nostalgisch nach einem Boot sein kannst, wenn du nie eins besessen hast.«
»Hey, wenn man sich leidenschaftlich für was interessieren kann, was es gar nicht gibt, wieso soll man dann nicht nach was nostalgisch sein können, was man nie gehabt hat? Schließlich sind ja auch manche Typen nostalgisch nach Gruppensex oder Inzest oder Pastrami-Sandwiches mit Pumpernickel. Und ich, ich bin nostalgisch nach Booten. Ich hab mir immer gewünscht, ich hätte eins und könnte zum Horizont davonsegeln.«
»Und was hält dich ab?«
»Wozu war das gut? Ich hatte da diesen Freund, der zufällig Experte für Horizonte ist, er weiß mehr drüber als du und ich zusammen. Er sagt, wenn man am Horizont ankommt, und er spricht aus eigener Erfahrung, ja?, gibt’s immer einen neuen Horizont.«
»Aber die Reise könnte ein Riesenspaß werden, auch wenn du nie den Horizont erreichst. Hab ich nicht recht, Charlene?«
»Nein. Wenn du dich für Amerika entscheidest, entscheidest du dich auch dafür, daß das Ankommen das wichtigste ist.«
»Das klingt, als wärst du ein bißchen schlecht drauf.«
Lemuel schnappt sich einen Stift und notiert »schlecht drauf« auf der Rückseite eines Briefumschlags.
»Ich schwimm mit dem Strom. Manchmal stellt sich raus, daß das gegen den Strom ist.«
»Kannst du das noch mal sagen, für langsame Leute wie mich? Hör gut zu, Charlene, Schatz. Rain hat sich was zugelegt, was man großkotzig als Weltanschauung bezeichnet, und zwar eine, die eindeutig nicht mainstream ist. Sie schwimmt mit dem Strom, auch wenn’s gegen den Strom geht. Ha, ha. Hey, bist du noch da, Rain? Rain? Na, so was. Wahrscheinlich hat sie aus einer Zelle angerufen und kein Kleingeld mehr gehabt. Also, falls ihr euch eben erst eingeblendet habt, ihr hört WHIM Elvira, den Kanal, auf dem gleichgesinnte Schlaflose zuhören, wie Schläfer ihre nicht jugendfreien Träume erzählen. Ich nehme jetzt den nächsten Anrufer.«
Lemuel sieht das Radio an, versucht, sich Rain in der Telefonzelle vorzustellen, und spürt, wie er in einen furchterregenden Wachtraum hineingezogen wird. Halbtotale von Rain in der Zelle, wie sie, den Hörer
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