Der Gastprofessor
Hühnerbein benagen. Ihr links, rechts, eins von beiden hätte keinen Sinn mehr, Sie würden das Gewaltsame des Zwangs zur Wahl vermissen, würden den Orgasmus vermissen, der davon kommt, daß man gewählt hat. Oj, welche Worte kann ich finden, um Sie das Licht sehen zu lassen? Wir denken, wir werfen das Los für den Sündenbock, aber Jahwe hat die Würfel gezinkt, will sagen, Er wählt den Sündenbock für uns aus. Sie hatten von Anfang an recht – Jahwes Zufälligkeit ist Pseudo-Zufälligkeit, will sagen, Seine Zufälligkeit ist ein Fußabdruck des Chaos. Und das bedeutet Gott sei Dank, daß alles unter der Sonne vorherbestimmt ist, auch wenn es nicht in unserer Macht steht, die Zukunft vorherzusehen. Links, rechts, entweder oder funktioniert, weil Ihre Wahl vorherbestimmt ist, Sie brauchen also nicht zu wählen. Oj, wie könnte es anders sein? Wo würde der Jahwe der Thora, dieser triebhafte Rächer, den wir kennen und lieben, aber nicht besonders mögen, wo, frage ich Sie, antworten Sie, wenn Sie können, wo würde Er ins Bild passen, wenn es reine Zufälligkeit gäbe, wenn nichts vorherbestimmt wäre, wenn wir täglich tausendmal eine Wahl, eine Entscheidung treffen müßten, wenn wir, im Gegensatz zu Gott, die wahren Herren unseres Schicksals wären?«
Der Rebbe grapscht sich ein Boulevardblatt von einem Stapel Zeitungen, mit denen er seinen Mülleimer auslegt, hockt sich auf seinen Stuhl und blättert ärgerlich die Seiten durch. »Unter meinem Dach erweist sich sogar Lesefutter als koscher«, murmelt er. Etwas in der Zeitung zieht seinen Blick auf sich. »Oj vej«, murmelt er, die Nase im Sportteil vergraben, »im fünften Rennen in Belmont startet eine Stute namens Messiah. Ob sie um eine Nasenlänge siegen oder als letzte durchs Ziel humpeln wird, ist bereits vorherbestimmt. Aber kann ich es riskieren, nicht auf sie zu wetten?«
5. KAPITEL
»Seine Kirsche verlieren« klingt irgendwie vertraut. Lemuel überlegt, wo ihm diese Redewendung schon einmal begegnet sein könnte. Sicherlich nicht in seiner verlorenen Ausbildungsvorschrift der Royal Canadian Air Force. Und sie klingt auch nicht wie etwas, was King James 1611 geläufig gewesen wäre. Womit sich die Liste auf Raymond Chandler und den Playboy verkürzt. Seine Intuition sagt Lemuel, daß der Playboy der wahrscheinlichere Kandidat ist, was wiederum vermuten läßt, daß »seine Kirsche verlieren« eine sexuelle Konnotation haben könnte. Aber was genau tat der Rebbe, als er zu den Klängen von Ravels Valses nobles et sentimentales aus dem Radio seine Kirsche verlor? Und nachdem er sie verloren hatte, ersetzte sie der Rebbe da durch eine andere? In Amerika der Schönen weinen die Menschen über verschüttete Milch (ein Ausdruck, den Lemuel von Dwayne aufgeschnappt hatte, als sie eines Tages durch den E-Z Mart gingen und in der Nähe der Tiefkühlabteilung eine Pfütze Milch entdeckten), aber darf man auch über verlorene Kirschen weinen? Er nimmt sich vor, die Wendung im Dictionary of American Slang nachzuschlagen und sie seinem Wortschatz einzuverleiben. Er kann sich Rains Gesicht vorstellen, wenn er auf ihr »Was läuft?« antwortet: »Ich hab meine Kirsche verloren.«
Lemuel läßt sich müde in seinen Schreibtischsessel sinken und zwingt sich, sich auf die Serienmordakten des Sheriffs zu konzentrieren. Die Details türmen sich wie Schlacken auf einer Halde.
Viele bergen ein Rätsel.
Punkt 1: Ein Taschentuch mit den eingestickten Initialen einer anderen Person in der Brusttasche des ersten Opfers des Serienmörders.
Punkt 2: Kontaktlinsen in der Tasche eines Opfers mit ungeminderter Sehkraft.
Punkt 3: Ein Bund Schlüssel, von denen keiner zu irgendeiner Tür im Leben des Opfers paßt, in der verkrampften Hand einer Ermordeten.
Punkt 4: Ein winziges Hörgerät in der Tasche eines Opfers, das keineswegs schwerhörig war.
Punkt 5: Eine siebzehn Zentimeter lange Kaiserschnittnarbe auf dem Bauch einer Ermordeten, die nie schwanger war.
Punkt 6: Ein Bündel undatierter, nicht unterschriebener, eindeutig an Frauen gerichteter Liebesbriefe im Abfalleimer eines Ermordeten, der das weibliche Geschlecht verabscheut und nach Meinung aller, die ihn kannten, immer keusch gelebt hat.
Punkt 7: Eine Ampulle mit einem Herzmittel in der Tasche eines Opfers, das nie wegen Herzbeschwerden in Behandlung war.
Dann die vielen Fetische: Schubladen voller ungewaschener Socken, Schränke voller ungeputzter Schuhe, Kartons voller Damenunterwäsche, Schuhschachteln
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