Der Gastprofessor
riechen, ist Speck«, gibt er zu. »Kulinarische Snobs behaupten, ›koscheres Essen‹ sei ein Oxymoron. Als führender Vertreter der koscheren nouvelle cuisine bin ich der lebende Beweis dafür, daß koscher keineswegs mit Essen unvereinbar ist. Und das ist der Grund, warum ich mein Perlhuhn zum Braten mit Speckstreifen umwickelt habe.«
Lemuel knurrt. »Ich dachte, orthodoxe Juden essen keinen Speck.«
»Wer redet denn von essen? Ich rieche ihn nur. Ich bin ohne eigene Schuld süchtig nach dem Geruch von Speck. Oj vej.«
»Wer hat das mit dem koscheren Essen erfunden?!«
Der Rebbe spült einen Teller unter dem laufenden Wasserhahn ab und stellt ihn in den für Fleisch-Geschirr reservierten Plastik-Abtropfständer. »Die Thora instruiert uns: ›Du sollst ein Böckchen nicht in der Milch seiner Mutter kochen.‹ Aus diesem Maulwurfshügel haben unsere Talmudisten einen Berg namens Koscher gemacht, und ich gehöre zu denen, die ihn treu und brav besteigen. Ich besitze – zögern Sie nicht, sie zu zählen, falls Sie glauben, ich übertreibe, es macht mir nichts aus – sechs Sätze Geschirr: je einen für Fleisch und Milchprodukte an Wochentagen, je einen für Fleisch und Milchprodukte am Sabbat und je einen für Fleisch und Milchprodukte zum Passahfest. Wenn ich den Tisch decken will, muß ich jedesmal meine Liste zu Rate ziehen.«
»In letzter Konsequenz«, bemerkt Lemuel trocken, »müßten Sie dann eigentlich auch zwei Zahnprothesen haben, eine für Fleisch und eine für Milchprodukte.«
Der Rebbe stellt die letzten Teller zum Trocknen auf. »Beim koscherem Essen muß man wie bei allem anderen die Grenze vom Rituellen zum Ridikülen beachten.«
Er fordert Lemuel mit einer Handbewegung auf, sich an den Küchentisch zu setzen, verteilt Servietten, die er im Studenten-Schnellimbiß geklaut hat, schaut auf die Uhr, ist mit einem Satz an der Bratröhre und holt ein brutzelndes, mit Speckstreifen umwickeltes Perlhuhn heraus. Sorgfältig zieht er die Speckstreifen ab und läßt sie in den Plastik-Abfalleimer fallen, der mit ein paar Seiten aus dem Jewish Daily Forward ausgelegt ist. Er wetzt das Messer und faßt das Perlhuhn ins Auge wie ein Chirurg, der gleich eine Operation am offenen Herzen vornehmen wird.
»Bloß gut, daß es Noah gegeben hat«, murmelt der Rebbe vor sich hin, während er beginnt, den Vogel zu tranchieren. »Vor der Sintflut waren alle Vegetarier. Dann hatte Jahwe gute Neuigkeiten für Noah. Ich spreche von Genesis 9, Vers 1 bis 3: »Alles, was sich regt, was da lebt, soll euch zur Speise sein.«
Lemuel räuspert sich. Er hat etwas zu verkünden. »Ich möchte zu Ihnen sagen, daß ich Ihre Diskretion zu schätzen weiß, Rebbe. Ich bin jetzt fünf Wochen hier, und Sie haben mir nicht eine einzige Frage gestellt.«
»Die Tatsache, daß Sie wieder hier eingezogen sind, spricht leider für sich selbst«, sagt der Rebbe, ohne aufzuschauen. »Für eine Schickse«, fügt er hinzu und wiegt dabei traurig den Kopf, »hat Rain einen sensationellen Arsch.«
Lemuel hängt seinen eigenen Gedanken nach. »Wenn man überhaupt von Schuld sprechen kann, war es meine Schuld. Ich liebe es nicht, das Chaos, ich kann nicht damit leben.«
»Seltsam, daß Sie davon sprechen, mit dem Chaos zu leben. Ich bin gerade dabei, die erste Rohfassung des letzten Aufsatzes fertigzustellen, den ich für das Institut schreibe, bevor ich meinem Davidstern nach Brooklyn folge«, erklärt der Rebbe. »Ich nenne ihn Die Thora als Hasardspiel. « Er schaut von seiner Tranchierarbeit auf und zwinkert Lemuel mit beiden Augen über seine Silberbrille hinweg zu. »Knackiger Titel, obwohl man sich ja nicht selber loben soll. Ich spiele mit dem Gedanken, den Aufsatz auf den Umfang eines ausgewachsenen Buchs zu verlängern, wobei ich die Filmrechte behalten würde. Bei so einem heißen Titel weiß man nie, wie viele Millionen man abräumen könnte. Heute eine bescheidene, chaosbezogene Talmudschule im innersten Herzen von Brooklyn, morgen womöglich eine Kette chaosbezogener Talmudschulen, die viele jüdische Vorposten in der Diaspora miteinander verbindet.« Er löffelt zwei gekochte Kartoffeln und ein paar verschrumpelte Erbsen auf einen Teller. »Bein, oder vielleicht Brust?«
»Brust, wenn ich bitten darf, Rebbe. Wenn schon, denn schon.«
»Das hört sich an wie etwas, was Rain sagen könnte.«
»Genau. Hat sie mal gesagt. Das war, als ich ihr von Onan als Pionier des Coitus interruptus erzählte.«
»Na bitte. Die linke oder
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