Der Gaukler: Historischer Roman (German Edition)
mit Marianne sprach sie häufiger von Frau zu Frau, als es mit ihrer Mutter jemals möglich gewesen wäre; David war ihr zum Freund geworden, und ja, es stimmte – sie hing an ihm. Und nun sollte ihr neues Zuhause wieder zerbrechen? Der Gedanke tat ihr weh.
Susanna wälzte sich von einer Seite auf die andere. Sie fragte sich, ob David die Tragweite seiner Entscheidung wirklich erfasste. Ohne den Bären leben? Ohne Stephan und Rübelrap? Ohne als Jean Potage auf die Bühne springen und die Leute zum Lachen bringen zu können? Freiwillig? Das konnte er doch nicht wirklich wollen!
Andererseits hatte Susanna nie zuvor derart lebenslustige Menschen getroffen wie die englischen Komödianten. Jeden Nachmittag der vergangenen Woche hatte sie mit David bei ihren Stücken im Heilsbrunner Hof verbracht und danach zwei Abende an ihrem Feuer im alten Klostergarten. Wie aufmerksam diese Menschen zuhörten, wie neugierig sie waren, wie klug und wie schön angezogen! Und wie ausgelassen sie tanzten und musizierten und sich die Gesichter heißredeten! Und mit welcher Hingabe sie Personen und Geschehnisse spielten, die doch nur ausgedacht waren. Gewiss, sie brachten Erträumtes und Erdichtetes auf die Bühne, doch sie taten es derart kunstvoll, dass man plötzlich glaubte, Wirkliches zu erleben.
Erschütternde Geschichten hatte Susanna in der Bühnenarena des Heilsbrunner Hofes gesehen: Die biblische Geschichte vom Vater, der ohne zu zögern, ja voller Freude seinen treulosen undverkommenen Sohn wieder bei sich aufnimmt; oder die traurige Liebesgeschichte von Romeo und Julia, an deren Ende Romeo sich vergiftet, weil er Julia für tot hält, und die wieder erwachte Julia sich ersticht, weil Romeo tatsächlich tot ist; oder die Geschichte vom römischen Feldherrn Titus, der, statt die Kaiserkrone zu nehmen, ein Meer von Blut und Tränen anrichtet; oder die vom reichen Mann und dem armen Lazarus, oder die vom dänischen Prinzen Hamlet, den die Erscheinung eines Geistes in so große Verwirrung stürzt, dass er sich wahnsinnig stellt, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
Und schließlich der Pickelhering, wie er zwischen den Szenen spaßige Dinge getrieben und die Zuschauer mit lustigen oder spöttischen Erklärungen in die Geschichten hineingezogen hat; oder wie er selber mitspielte und den Geschichten durch sein spöttisches Wesen den allzu blutigen Ernst und die letzte Härte nahm.
Lange hatte Susanna nicht so viel geweint und gelacht wie in der vergangenen Woche, während sie die Engländer Theater spielen sah. Und beides zugleich überhaupt noch nie. Oft wenn sie danach mit David durch die Straßen von Nürnberg zur Wagenburg zurückkehrte, entdeckte sie plötzlich manches aus den erdichteten und gespielten Geschichten in ihrem eigenen Leben wieder; oder im Leben von Menschen, die sie gekannt oder von denen sie gehört hatte.
So viel Neues und Aufregendes hatte Susanna in so kurzer Zeit gesehen und erlebt, dass sie die englischen Komödianten einfach gern haben musste. Auch wenn sie es sich nicht immer eingestand – sie hatte noch lange nicht genug von ihnen und ihren Tragödien und Komödien; und von ihren Tänzen und ihrer Musik sowieso nicht.
Sicher – diese blonde Prinzessin würde sie niemals lieben können; ihre ganze Erscheinung hatte etwas Gekünsteltes. Und Greenley, der Prinzipal, redete viel zu viel und hörte sich dabeiviel zu gern zu. Und natürlich tranken sie alle miteinander mehr Wein, als Susanna gutheißen konnte. Dennoch fühlte auch sie sich angezogen von den Engländern, und ein Teil in ihrem Herzen konnte Davids Entscheidung gut verstehen.
Draußen ging es inzwischen wieder lauter zu. Marianne keifte, Lauretta flehte, Stephan schnarchte; und David schwieg. Susanna wartete darauf, dass wieder einer aus dem Fenster rief.
Er sprach nicht viel seit dem ersten langen Abend im alten Klostergarten, der junge Gaukler, schon gar nicht über die Zukunft. Entweder stand er an den Vormittagen mit Bela und Stephan auf der Bühne, oder er bereitete sich an den Nachmittagen im Heilsbrunner Hof auf seinen großen Auftritt vor.
Morgen war es so weit, morgen würde er in der Tragödie »Von der Ehebrecherin« den verführten Studenten spielen. Und alle Engländer würden ihn mit Luchsaugen dabei beobachten. Morgen entschied sich seine Zukunft. Und ihre.
Vielleicht fiel David ja durch bei den Komödianten. Susanna warf sich auf den Rücken und gähnte. Ja, vielleicht würde sein Auftritt nicht einmal Greenley
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