Der Gaukler: Historischer Roman (German Edition)
gefallen. Dann hätte aller Streit ein Ende, dann bliebe alles so, wie es war.
Insgeheim hoffte sie es.
Nicht weit entfernt sang der Nachtwächter. Zehn Uhr. Susanna hörte Kirchturmuhren schlagen. Marianne fluchte und schimpfte schon wieder. Stiefelschritte knallten über das Kopfsteinpflaster, näherten sich rasch. Marianne und die Zwergin verstummten. Dann Männerstimmen draußen bei den anderen Wagen.
Susanna kroch zum Kutschbock, richtete sich auf und lugte an der Plane vorbei nach draußen. Zwei Türmer standen bei den anderen, einer trug einen Spieß, der andere eine Muskete. Die hatten Mariannes Geschrei oben auf dem Turm des Tores die ganze Zeit gehört und wiesen sie nun scharf zurecht. An Susanna vorbei sprang die Katze aus dem Wagen und verschwand in der Dunkelheit.
Ein Mann in langem schwarzen Gewand stelzte über den Platzheran; er trug eine Laterne und eine Hellebarde. Der Nachtwächter. Er gesellte sich zu den Türmern, hörte sich ihre Klage an und forderte die Gaukler auf, endlich schlafen zu gehen. Die gehorchten, und kurz darauf kletterte David zu Susanna auf den Wagen.
Neben der Zielscheibe, auf die Lauretta ihre Messer zu schleudern pflegte, rollte er sich in seine Decke. So schliefen sie immer: getrennt durch die Zielscheibe. Oder fast immer: Nur in Frostnächten kroch Susanna manchmal zu David unter die Decke. Um sich von ihm wärmen zu lassen und sonst gar nichts. »Gute Nacht«, sagte sie, damit er merkte, dass sie noch wach lag.
»Wirst du mit mir gehen?«, fragte er.
Er schien es ganz ernst zu meinen; und überhaupt nicht daran zu zweifeln, dass sein Spiel morgen die Komödianten überzeugen würde. »Du willst dich wirklich von ihnen trennen?« Das Herz wurde Susanna ganz schwer auf einmal. David schwieg. »Der Bär, die Landgräfin, der gute Stephan, die Zwergin und Rübelrap – das ist doch deine Familie.« Er antwortete mit keinem Wort. »Was soll denn aus Bela werden, wie willst du ohne ihn denn überhaupt leben?«
»Gute Nacht.« David wandte ihr den Rücken zu und zog die Beine unter der Decke an. Bald darauf hörte Susanna ihn leise weinen. Sie kroch an der Zielscheibe vorbei, streckte sich an seinem Rücken aus, drückte sich an ihn und streichelte sein Haar. So lagen sie eine Zeitlang.
Irgendwann schlugen die Kirchturmuhren von Nürnberg elf Uhr. »Ich muss es tun«, flüsterte David. »Ich hätte es schon zweimal tun können, und das letzte Mal habe ich Greenley nur wegen der anderen nicht nach London begleitet.« Er schwieg ein paar Atemzüge lang und fügte dann hinzu: »Zum Glück. Wäre ich damals mit ihm aus Heidelberg fortgegangen, hätte ich dich nie wiedergesehen. Und du wärst wahrscheinlich tot.« Wieder schwieg er eine Weile. Und dann sehr leise: »Gehst du mit mir?«
Susanna schluckte und starrte in die Dunkelheit. Ihr Herzschlug schneller. Die schlimme Stunde in der Heilig-Geist-Kirche während des Orkans fiel ihr plötzlich ein; als sie Gott versprach, ihm zu dienen und den Weg zu gehen, den er ihr wies, falls er sie rettete. Welcher Weg sollte das denn sein, wenn nicht der, den ihr Retter ging? »Ja«, sagte sie schließlich. »Wenn die Komödianten dich wollen, dann gehe ich mit dir.«
Am nächsten Vormittag auf dem Hauptmarkt gab David mit Bela und Stephan wieder den Jean Potage, der damit prahlte, einen Bären gefangen zu haben. Susanna ging mit der Schatulle zwischen den Zuschauern umher, die sich vor der Wagenbühne sammelten.
Gleich nach dem Zähnebrechen, am frühen Nachmittag, schlüpfte Susanna in ihr schönes Kleid, frisierte sich sorgfältig und packte Davids Kostüm ein. Seite an Seite eilten sie zum Heilsbrunner Hof. Die Vorstellung der englischen Komödianten begann wie immer um drei Uhr.
*
Unzählige Türme ragten von den Wehrmauern und aus dem Dächermeer der Stadt auf, mehr als Hannes in Magdeburg oder selbst Köln gesehen hatte. Nürnberg lag auf einem Hügel, von dessen Kuppe sich eine Burg erhob; die Kaiserburg, wie Hannes von seinen Reisegefährten erfuhr. Von ihr aus stiegen die Kirchen, Straßen, Gassen und Häuser zur Südmauer hinunter. Erker, Firste und Turmspitzen leuchteten im schönen Licht der Maisonne.
Eine reiche Stadt – Hannes sah es gleich an den schmucken Hausfassaden und an den eleganten Kleidern der Menschen auf der breiten Straße, als er den Wehrgraben und das Spittlertor hinter sich gelassen hatte. In einer Gruppe von beinahe dreißig Männern und Frauen zog er zum Hauptmarkt hinauf: Kaufmänner vor allem,
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