Der Gaukler: Historischer Roman (German Edition)
paar Atemzüge lang ihre Arbeit und ihre Sorgen. Wie schnell doch so ein Glitzerteppich erlosch, während die Sonne in den Himmel stieg und der Tau nach und nach verdunstete. Licht löschte Licht. Seltsam kam ihr das vor, beklemmend; obwohl es doch einfach zu erklären war.
Seit Wochen saß sie Morgen für Morgen als Erste an ihrem Fensterplatz bei ihren Stickereien. Und am Abend verließ sie als Letzte die Werkstatt. Auch an diesem denkwürdigen Morgen arbeitete außer ihr noch keiner an den Näh- und Zuschneidetischen. Doch trotz der langen Tage, die Susanna schon den ganzen Sommer über hier an ihrem Fensterplatz verbrachte, wollte es ihr nicht wirklich gelingen, mehr Stoff zu besticken als in anderen, ruhigeren Zeiten.
Lange war es her, dass Susanna die Zeiten hätte »ruhig« nennen können. Schon zu lange.
Bei jedem Schritt, der sich draußen auf der Straße näherte, blickte sie auf und sah hinaus; bei jedem Hufschlag, jedem Klang einer menschlichen Stimme. Jedes Mal hoffte sie, Friedrich Stein würde kommen oder sonst jemand aus dem Dorf oben im Odenwald; irgendjemand, der Nachricht brachte. Nachricht von Hannes.
So waren die Tage vergangen, die Wochen, die Monate. Himbeeren und Mirabellen waren geerntet worden, die frühen Zwetschgen, die Birnen und vor ein paar Tagen hatten sie die ersten Äpfel im Keller eingelagert. Von Hannes keine Nachricht.
Stattdessen Nachrichten vom Krieg – beinahe jeden Tag neue und beinahe jeden Tag schrecklichere. In der Werkstatt sprachen sie kaum noch über das, was auf der anderen Rheinseite und in den weiter nördlich gelegenen Städten der Bergstraße geschah. Der Vater wollte nichts davon wissen.
In der Küche hörte Susanna inzwischen ihre Schwester und die Großmutter hantieren. Großmutter schürte das Herdfeuer, Anna setzte die Suppe auf und holte den Rübenkuchen aus der Vorratskammer. Bald darauf hörte sie auch die Tante tuscheln und das Brot für das Frühstück schneiden. Türen knarrten, und Vater und Mutter traten in die Werkstatt, um die Arbeit für diesen Tag vorzubereiten.
Die Morgengrüße fielen knapp aus, auch beim Frühstück später wurde nicht viel gesprochen. Der Vater hatte seine Suppe noch nicht ausgelöffelt, da erklärte er den Gesellen und den Frauen schon, was bis Sonnenuntergang weggeschafft werden musste. Der Großvater nickte stumm.
Es war noch kühler geworden zwischen den Menschen unter Meister Almuts Dach seit jenem Heidelberger Markttag im Frühsommer. Lag es am unerbittlich näher rückenden Kriegsgeschrei? Lag es an der Feindseligkeit zwischen Susanna und ihrer Mutter?
Den Vormittag über erfüllte der Klang der Arbeit die Werkstatt: das Rascheln der Stoffe, das Sirren der Fäden und das Klappern der Scheren. Dann und wann entfuhren der Mutter Seufzer, die Tante murmelte leise vor sich hin, und der Großvater, dem das Rheuma in Knien und Hüften stach, stand hin und wieder auf und ging ein Weilchen umher. Dann knarrten die Dielen und manchmal auch seine Gelenke. Draußen in der Küche stimmtedie Großmutter ein Lied an – »Ein feste Burg ist unser Gott« –, und Vater und Mutter stimmten halbherzig ein.
Susanna fiel es schwer, die Aufmerksamkeit für längere Zeit auf ihren Stickrahmen zu richten. Im Obstgarten auf der anderen Straßenseite glitzerten längst keine Tautropfen mehr. Hühner scharrten im Gras des Obstgartens. Wie so oft vergaß Susanna die Arbeit, blickte hinüber und hing ihren Gedanken nach.
Erlosch nicht das Leben im Grunde ähnlich schnell wie Sonnenlicht, das sich in Tautropfen spiegelte? Und die Liebe – erlosch sie etwa auch so rasch? Alles in ihr wehrte sich gegen den Gedanken. Nein, die Liebe nicht! Niemals erlosch sie! Fühlte sie das nicht mit jeder Faser ihres Leibes? Und hieß es nicht so auch in der Heiligen Schrift?
Ein Traumbild der vergangenen Nacht blitzte vor ihrem inneren Auge auf – Hannes, wie er am Horizont verschwindet, und sie kann ihm nicht folgen, weil ihre Füße an die Stadtmauer von Handschuhsheim angekettet sind … Susanna schüttelte sich und beugte sich wieder über ihren Stickrahmen.
Immer häufiger plagten sie in letzter Zeit schlimme Träume; und tagsüber hatte sie nach solchen Albtraumnächten das Gefühl, eine Wunde würde sich hinter ihrem Brustbein öffnen. Jeden Tag ein Stück mehr, und jeden Tag blutete sie heftiger.
Wieder sah sie zum Fenster hinaus, wieder dachte sie an Hannes. War ihm ein Unglück zugestoßen? Hatte womöglich der Krieg ihm den Weg nach
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