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Der Gebieter

Der Gebieter

Titel: Der Gebieter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan Whalen Turner
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Zwecken dient, hätte ich angenommen, dass du ein wenig … dekorativer wärst.«
    Die meisten Kammerherren besaßen den Anstand, unbehaglich dreinzublicken, da sie wussten, dass Costis für ihre Verfehlungen büßen musste. Hilarion starrte den König böse an, da er nicht in seinem Gesichtsfeld stand. Sejanus wirkte bloß erheitert. Er zog die Augenbrauen hoch und lächelte, als erwarte er, dass auch Costis über den Scherz lachen würde.
    Erst so wurde Costis seine neue Rolle völlig bewusst: Er war aus der Versenkung hervorgeholt worden, damit ein Unglücksrabe in der Hackordnung noch unter dem König stand.
     
    Wenn der König gehofft hatte, Costis und mit ihm die Garde töricht wirken zu lassen, hatte er sich das falsche Opfer ausgesucht. An jenem Tag, und jedem anderen Tag, behandelten ihn die Soldaten der Garde wie einen Leutnant, und das nicht zum Spaß. Dem König diente er nur als Zielscheibe seines Spotts, aber die Gardisten, darunter Veteranen, die doppelt so alt waren wie er, salutierten in betont tadelloser Haltung vor ihm und redeten ihn respektvoll mit seinem Dienstgrad an. Sogar Teleus machte keinen Unterschied zwischen Costis und seinen anderen
Leutnants; er behandelte sie alle gleich. Die Aufmerksamkeit behagte Costis zunächst nicht. Er kam sich vor wie ein Hochstapler, aber der Respekt, der ihm erwiesen wurde, war nicht aufgesetzt. Die Garde wollte, dass er Leutnant war und nicht nur einen spielte, und ihr Vertrauen zu ihm verlieh ihm die Kraft, die er brauchte, um die Gegenwart des Königs mit Würde zu ertragen.
    Er erhielt auch Unterstützung aus einer anderen, anonymen Quelle. Er nahm an, dass es sich um Sejanus handelte, hatte aber keinen Beweis dafür, dass es der erfolgreichste Peiniger des Königs war, der ihm von Zeit zu Zeit ein Päckchen mit Notizen über die Unterrichtsstunden des Königs schickte. Das erste kam am zweiten Tag von Costis’ neuen Pflichten an. Costis saß in seinem Leutnantsquartier und nahm in Augenschein, was auf dem Bett auf ihn gewartet hatte. Es war ein flaches, in Stoff eingeschlagenes Päckchen, das mit einem Bindfaden verschnürt war, unter dem eine zusammengefaltete Nachricht steckte.
    »Um dir beim Lernen zu helfen«, stand darin, »von jemandem, der dir Glück im Wettstreit wünscht.« Das umschrieb, wie Costis fand, seine Rolle höchst treffend. Ob er nun wollte oder nicht, er war für den König ein Gegner. Costis öffnete die Stoffhülle und fand eine Sammlung von ordentlich gefalteten, eng beschriebenen Pergamentblättern. Er trug sie zum Fenster und überflog die detaillierten Notizen, die jemand über die Struktur der medischen Sprache angefertigt hatte. Die Handschrift war kantig, aber unregelmäßig, als ob die Hand, die die Feder geführt hatte, gezittert hätte. Wenn es Sejanus gewesen war, hatte er wahrscheinlich beim Schreiben gelacht. Mehrere Blätter waren von beiden Seiten mit Vokabellisten bedeckt. Costis sah sie durch, um die Wörter zu finden, nach denen der König ihn am Vortag gefragt hatte. Der Infinitiv von schlagen und die Ausdrücke
für Verräter und Dummkopf waren am unteren Ende der Liste hinzugefügt worden.
    Costis sah sich den Brief noch einmal an. Er war nicht unterzeichnet. Das Päckchen könnte auch von einem der Lehrer des Königs stammen, aber es war wahrscheinlicher, dass einer der Kammerherren des Königs dahintersteckte. Sejanus war eindeutig der Anführer, obwohl Kammerherr Hilarion der älteste war und der jüngste, Philologos, als Erbe eines Barons den höchsten Rang innehatte. Costis sah die Blätter noch einmal durch und wünschte sich, er hätte auch eine schriftliche Erklärung zu den Fragestellungen erhalten, die sich auf den Olivenanbau bezogen. Er nahm an, dass er eine brauchen würde.
     
    »Danke, Costis«, sagte der König und ließ ihn wegtreten.
    »Danke, Euer Majestät«, erwiderte Costis.
    Der König ging quer über den Übungsplatz zu seinen Kammerherren, die auf der gegenüberliegenden Seite warteten. Die ganze Schar verschwand durch einen Torbogen und war rasch außer Sicht. Während sie davongingen, wandte Costis sich dem anderen Torbogen hinter sich zu; der Abgang des Königs enthob ihn der Pflicht, eine höfliche Haltung einzunehmen. Die Soldaten machten ihm den Weg frei, und er beeilte sich. Seine Kleidung und Ausrüstung warteten in den Bädern auf ihn. Er hatte gerade genug Zeit, durch einen Seiteneingang in das höhlenartige Gebäude zu schlüpfen, das Kaltwasserbecken zu umrunden und durch

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