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Der geduldige Tod (German Edition)

Der geduldige Tod (German Edition)

Titel: Der geduldige Tod (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helke Böttger
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was passiert war. Wenn sie es tat, würde er sich vielleicht vor ihr zurückziehen. Sogar vor ihr ekeln. Aber wenn sie es nicht tat, würde er niemals erfahren, warum sie so war, wie sie war. So unsicher und verkrüppelt, innerlich wie äußerlich.
    »Ich war das Opfer eines Serienmörders. Er wollte meine Hände abschneiden, um aus ihnen und den Körperteilen von elf anderen Frauen eine neue Person zusammenzusetzen. Seine Traumfrau. Ich habe als Einzige überlebt.«
    Sie konnte die Worte nicht zurückhalten. Und sie war erstaunt, wie teilnahmslos sie klang, als sie ihm das sagte. Ihre Stimme zitterte nicht, obwohl sie das Gefühl hatte, innerlich zu beben.
    Er zog erschrocken die Augenbrauen nach oben. »Ehrlich? Oh mein Gott! Das hatte ich nicht erwartet.«
    Natürlich nicht. Niemand erwartete so etwas.
    »Wann ist das passiert?«, wollte der junge Mann wissen.
    »Vor über zwei Jahren. An einem Frühlingsabend auf dem Weg nach Hause. Er hatte mich seit Wochen beobachtet und den besten Moment für den Überfall abgewartet.«
    Es fühlte sich auf seltsame Weise gut an, ihm das zu erzählen. Auch wenn sie das Gefühl hatte, zu zittern wie Espenlaub, war es befreiend. Sie spürte einen dicken Kloß in ihrer Kehle, als sie auf seine Reaktion wartete. Er sprang nicht entsetzt auf. Er verzog auch nicht angewidert das Gesicht. Er nahm einfach erneut ihre Hand und führte sie an seine Lippen, wo er einen zarten Kuss auf die rote Linie setzte.
    Sie wollte verlegen ihre Hand wegziehen, doch dieses Mal hielt er sie fest. Er ergriff auch noch die andere und presste ebenfalls ein Küsschen auf die Narbe.
    »Du musst nie wieder eine Thermoskanne öffnen, nie wieder, das verspreche ich dir. Und ich werde dich beschützen, damit dir so etwas nicht noch einmal passiert.«
    Sie lächelte, weil er so ernst und entschlossen klang. Er mochte sie wirklich. Sie musste sich im Sitzen verrenken, da er ihre Hände nach vorn über das Tablett mit dem Frühstück gezogen hatte und noch immer festhielt. Doch sie ließ ihn gewähren. Sie wollte den Moment nicht zerstören. Er war ein Mensch, der nicht entsetzt die Hände über dem Kopf zusammenschlug oder kein Wort herausbrachte, wenn er von der »Katastrophe« hörte. Er richtete nicht verlegen die Augen auf den Boden, weil er nicht wusste, wie er mit ihr umgehen sollte. Wenn Victoria die Reaktionen der Leute mitbekam, hatte sie oft gedacht, wie einsam sich Krüppel, Behinderte und Rollstuhlfahrer fühlen mussten. Wenn sie wie Victoria von ihren Mitmenschen entweder mit übereifriger Rücksicht und Anteilnahme bedacht wurden, oder wenn sich die Leute im Ignorieren übten, mühevoll so taten, als wäre alles völlig normal, während sie verkrampft nach einem Fluchtweg suchten. Sogar ihre Familie war nicht mehr wie vorher. Auch das war ein Grund, warum sie weggegangen war.
    Doch Francisco schien anders. Er strich mit seinem Daumen über die Narben, nahm zärtlich ihre Finger in seine Hände und presste sie ebenfalls an seinen Mund, jeden einzeln.
    Victoria konnte kaum noch so verdreht sitzen, sie spürte einen bösen Krampf im Rücken und musste ihm schließlich ihre Hände entziehen.
    Zögerlich gab er ihre Finger frei. »Haben sie den Wahnsinnigen festnehmen können?«
    »Ja. Da ich überlebt hatte, konnte ich ihn beschreiben. Er sitzt lebenslänglich in der geschlossenen psychiatrischen Anstalt des Gefängnisses.«
    »Gut. Oder schade, je nachdem. Wenn er noch auf freiem Fuß wäre, hätte ich ihn gejagt und gefunden und ihm dann jedes Organ einzeln rausgerissen, jeden Finger gebrochen, ihn grün und blau geschlagen, bevor ich ihn langsam ertränkt hätte. Was für ein irrer Mensch, der so etwas einer Frau wie dir antut.«
    Sie nickte zustimmend. Auch sie hatte schon mehrmals daran gedacht, was sie tun würde, wenn sie dem Mörder erneut begegnen würde. An guten Tagen kreisten ähnliche Fantasien wie die von Francisco durch ihr Hirn, an schlechten wollte sie einfach nur schreiend davonlaufen.
    »Er kommt nie mehr raus, hat mir der Richter gesagt.«
    Auf einmal zitterte sie wirklich. Denn für einen winzigen Moment huschte der irrwitzige Gedanke durch ihren Kopf, dass der Richter vielleicht gelogen hatte. Dass der verrückte Killer ihr tatsächlich erneut begegnen könnte. Diese Idee ließ ihr Herz viel zu schnell schlagen. Was wäre, wenn er entkäme? Würde er sie jagen, um sein Werk zu vollenden?
    Sie hatte plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ihr Herz raste. Schweißperlen

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