Der geduldige Tod (German Edition)
Der Gedanke an die Melodie half, sie ein wenig zu beruhigen. Sie spürte ihren Herzschlag, wie er rasend bis in ihren Hals klopfte. Sie fühlte auch, wie sich ihre Lunge entkrampfte und die Luft wieder großzügiger eingesogen wurde. Ihr Blick wurde klarer.
Die Frau im Hosenanzug winkte dem Mann mit der Uniform, damit er den Wagen zu ihr fuhr. Sie half Victoria beim Aufstehen, dann brachte sie sie zum Auto und setzte sie hinein. Jemand machte den Vorschlag, die Ambulanz zu rufen, doch Victoria wehrte ab. Sie wollte nur noch nach Hause. Sie registrierte kaum, wie über sie gesprochen, ihre Bitte jedoch schließlich akzeptiert und sie zu ihrer Wohnung gebracht wurde.
Daheim legte sie sich auf das Sofa, nahm eine Beruhigungstablette und wartete darauf, dass diese wirkte und sie einschlafen und die furchtbare Nachricht vergessen ließ.
Nur wenig später wurde sie vom heftigen Klopfen an ihre Tür aufgeschreckt. Sie fühlte sich müde und erschöpft, als wäre sie zwei Marathons hintereinander gelaufen. Die Tablette wirkte offenbar. Ihre Beine zitterten noch, aber wenigstens schlug ihr Herz völlig normal und ihre Atmung ging ruhig und gleichmäßig.
»Victoria, mach die Tür auf«, rief Francisco von draußen.
Sie schlurfte zur Tür, und als sie sie öffnete, drang ein völlig aufgelöster Francisco in ihre Wohnung ein.
»Was ist passiert? Geht es dir gut? Ich habe mir Sorgen gemacht!«
Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und sah sie eindringlich an.
Sie versuchte mühsam zu lächeln. »Ich habe wieder einmal die Kontrolle verloren. Es ist so unsinnig.« Sie versuchte, sich einzureden, dass ihre Angst grundlos sei, aber dieses Mal war es nicht ganz so leicht. Es hatte eine Leiche gegeben.
»Ich habe davon gehört«, sagte ihr Besucher leise. »Sie haben eine Tote gefunden. Das hat nichts mit dir zu tun, hörst du? Sie ist vermutlich ertrunken.«
»Ihre Füße waren abgetrennt«, erwiderte Victoria genauso leise.
»Vielleicht waren es die Fische. Wer weiß, wie lange sie im Wasser trieb.«
Victoria nickte. Das war durchaus möglich. Sie konnte fühlen, wie sie sich mehr und mehr beruhigte. Eine fremde Frau war ertrunken und die Fische hatten ihre Füße gefressen. Oder sie waren in einen Bootsmotor geraten.
Aber warum hatte die alte Frau auf dem Markt dann »Mord« und »Mörder« geschrien?
»Es ist nichts passiert«, beruhigte sie Francisco weiter. »Leg dich hin. Ich bleibe hier und beschütze dich.«
Sie versuchte ein dankbares Lächeln, doch weil sie sich so groggy und erschöpft fühlte, fiel es sehr kläglich aus. Fügsam ging sie ins Schlafzimmer und legte sich hin.
Francisco wich nicht von ihrer Seite und holte sich den Sessel aus dem Wohnzimmer, um zuzusehen, wie ihre Augenlider langsam immer schwerer wurden und sie nur wenige Minuten später eingeschlafen war.
Als Victoria aufwachte, hörte sie Geräusche aus der Küche. Der Duft von gebratenem Fisch kitzelte ihre Nase. Sie fühlte sich wesentlich besser, noch immer etwas angeschlagen, aber viel frischer und leichter im Kopf. Die Angst hatte sich verzogen.
Sie schlug die Decke zurück und ging in die Küche, wo sie Francisco am Herd stehend vorfand.
»Na, ausgeschlafen?«, fragte er mit einem neckischem Kopfnicken und gab ihr einen Kuss auf die Nase.
Sie strich mit der Hand durch ihr Haar und versuchte ein Lächeln, das ihr ebenfalls wesentlich besser gelang als noch Stunden zuvor. Es sah sogar richtig süß aus. Das behauptete jedenfalls Francisco, als er es zu sehen bekam.
»Ich habe dir Abendessen mitgebracht und schon gekocht«, fügte er mit einem Blick auf die Speisen in Topf und Tiegel hinzu.
»Abendessen?« Erschrocken sah Victoria zur Uhr. Es war nach sieben. Draußen schimmerte die Sonne schwächer werdend über dem Meer im Westen, die Möwen verlegten ihr Jagdrevier vom Fischmarkt zu den Restaurants, in denen die Urlauber zu dinieren pflegten. Die Schatten der Bäume und Sträucher streckten sich lang über den Asphalt und die Wiesen, und aus dem geöffneten Fenster konnte Victoria das Geräusch des Rasensprengers im Nachbargarten ausmachen, der sich jeden Abend einschaltete. Sie hatte den kompletten Tag verschlafen.
»Zum Glück verpasse ich nichts«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Keinen Job, keine Familie oder den Besuch von Sehenswürdigkeiten.«
»Du verpasst mich.« Francisco runzelte in gespielter Empörung die Stirn.
»Ja, dich habe ich verpasst«, wiederholte sie. »Aber ich hoffe, du hast Zeit, zum
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