Der geduldige Tod (German Edition)
immer wieder gebrochen. Und in einem Notfall würde sicherlich sogar Señora Rodriguez dafür Verständnis zeigen.
Als Victoria etwas später zum Fenster hinausschaute, weil sie Schritte vor dem Haus und das Klappen einer Autotür gehört hatte, wusste sie jedoch, dass die Vermieterin nicht so verständnisvoll sein würde wie erhofft. Und ihr wurde klar, wen ihr die Alte im Fall der Fälle zur Hilfe senden würde. Drei Männer verließen im Schutze der Dunkelheit das Haus und stiegen in ein Auto ein. Sie hatten Schlagstöcke und Baseball-Schläger in der Hand. Als einer der Kerle den Blick hob und zu ihrem Fenster sah, versteckte sie sich schnell hinter der Gardine. Dann fuhren sie los.
Offensichtlich würde derjenige, der die Tochter von Señora Rodriguez so übel zugerichtet hatte, heute unangenehmen Besuch bekommen..
Victoria hätte nie gedacht, dass sie schon so schnell in die Verlegenheit kommen würde, ihr Versprechen brechen zu müssen. Aber sie konnte nichts dafür. Als sie am Morgen aufwachte, ahnte noch nicht einmal, dass sie heute überhaupt in Kontakt mit den Behörden kommen würde. Und dass ihre schlimmsten Albträume sich in Realität wandeln würden.
Nach dem Frühstück ging sie zunächst ahnungslos die Straße hinauf zum Markt, um Francisco ein Pfund Tomaten abzukaufen. Und – und das war der hauptsächliche Grund, denn Tomaten hätte sie auch im Supermarkt in der Avenida de la Reina, einer staubigen Nebenstraße, erhalten können – um den jungen Mann wiederzusehen. Sie sehnte sich danach, mit ihm zu sprechen, in seine warmen Augen zu blicken und seine sanften Hände auf ihrer Haut zu spüren. Vermutlich würden sie auf dem Markt nur wenige Zärtlichkeiten austauschen können, um die Dorfbewohner nicht zu sehr zum Klatsch herauszufordern, aber ein paar »zufällige« Berührungen hier und da wären sicherlich möglich. Doch dazu kam es nicht. Als sie zum Markt einbiegen wollte, sah sie einen Polizeiwagen, der am Eingang stand. Daneben lehnte ein Mann in Uniform. Eine Frau in einem braunen Hosenanzug, unter dem sie eine gestärkte weiße Bluse trug, sprach mit einem älteren Mann, der einen Stand für Kunsthandwerk betrieb. Die Frau redete auf den Mann ein, dieser wiederum hielt sich entsetzt die Hand vor den Mund.
Zunächst dachte Victoria an einen Unfall und einen Augenblick später, als sie sich die Gesichter der Schläger aus der vergangenen Nacht ins Gedächtnis zurückrief, an eine Schlägerei, doch dann hörte sie das Klagen einer älteren Frau. »Homicida! Un asesino! Muerte, muerte!« Sie schrie und klagte, und Victorias Herz begann eine Spur schneller zu klopfen. Auch wenn ihre Spanischkenntnisse beschränkt waren, das verstand sie: Mörder, Tod! Wer war getötet worden? Wo? Hier, in ihrem Ort? Und warum?
Die Frau im Hosenanzug brachte den Spanier zum Polizeiwagen. Er wirkte erschüttert, als er einstieg. Seine Hände zitterten, eine Träne stahl sich aus seinem Auge und lief seine Wange hinunter.
»Was ist passiert?«, fragte Victoria eine der Frauen, die mit ihren Körben am Eingang des Marktes standen und wie sie das Geschehen beobachteten. »Hat er jemanden getötet?«
»Nein, er hat niemanden getötet«, antwortete die mit ernstem Gesicht, in dem sich Fassungslosigkeit widerspiegelte. »Er ist der Bruder der Toten.«
»Welche Tote?« Offenbar wusste die Frau mehr.
Die Frau wandte sich Victoria zu. »Bei Sonnenaufgang wurde eine Leiche am Strand gefunden. Ana, seine kleine Schwester. Sie wissen noch nicht, wie sie gestorben ist, aber sie war übel zugerichtet. Ihre Füße waren abgetrennt. Beide.«
Victoria hatte das Gefühl, ihr Herz bliebe stehen. Ihre Atmung setzte aus. Krampfhaft versuchte sie, Luft zu holen, doch es gelang ihr kaum. Raspelnd jagten nur einzelne Sauerstoffatome durch ihre angstvoll verengte Luftröhre, um sie am Leben zu erhalten. Doch das reichte kaum. Sie spürte, wie ihr Körper anfing zu taumeln. Sie konnte sich kaum noch aufrecht halten. Ihre Hände suchten nach Halt. Verschwommen nahm sie wahr, wie Francisco zu ihr eilte, auch die Frau im Hosenanzug kam auf sie zu. Jemand fing sie auf, bevor sie in den Straßenstaub stürzte.
»Victoria! Atme, du musst atmen!« Franciscos Stimme drang wie aus dichtem Nebel an ihr Ohr. »Summe ein Lied! Summe!«
Krächzend versuchte sie, den letzten Rest von Luft, der in ihrem Körper zu stecken schien, durch ihre Stimmbänder zu schicken. Es klang nicht mal ansatzweise nach einem Summen, aber es half.
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