Der geduldige Tod (German Edition)
kehrte das Lied auf ihre Lippen zurück. Sie erinnerte sich an seine warmen Lippen, als er sie zum Abschied lange geküsst hatte. An seine starken Hände, die ihr beim Aussteigen geholfen hatten. Und an seine Augen, die ihr mit sehnsüchtigen Blicken gefolgt waren, als sie das Boot verließ und nach Hause lief.
Nachdem sie ihre Tasche ausgepackt hatte, fühlte sie sich noch viel zu aufgekratzt, um schon ins Bett zu gehen. Daher schaltete sie den Computer an und sah nach, ob sie eine Mail erhalten hatte. Ihre Eltern hatten ihr geschrieben und eine offizielle Einladung zum Geburtstag ihres Vaters geschickt. Sie überlegte einen Moment, wie sie darauf reagieren sollte, doch weil ihr nichts Passendes einfiel, verschob sie die Antwort auf einen späteren Zeitpunkt. Auch eine Freundin aus besseren Zeiten hatte ihr eine Nachricht geschickt, wollte wissen, wie es ihr ging und ob sie sie vielleicht besuchen könne. Auch darauf antwortete Victoria nicht. Der Rest war Spam, erbärmliche Versuche, an ihre Kontodaten zu kommen, ihr eine Penisverlängerung, angebliche Gewinne oder Erbschaften von afrikanischen Königen aufzuschwatzen.
Als sie den Computer ausschalten wollte, klopfte es an ihrer Tür. Zögerlich stand sie auf. Sie erwartete niemanden. Nicht einmal Francisco, denn der hatte heute eine Verabredung mit seinen Freunden.
Sie ging zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Señora Rodriguez stand davor, ein Stück Kuchen in der Hand haltend.
»Buenas noches«, sagte die Alte. »Darf ich kommen rein?«
»Sicher.«
Sie trat ein und steuerte zielstrebig auf die Küche zu, wo sie den Kuchen abstellte.
»Gut Tag haben?«, fragte sie, als sie zu Victoria zurückkehrte.
»Ja, sehr gut. Ich habe eine Bootstour gemacht. Es war toll.«
»Gut, gut!« Sie stand vor Victoria und musterte sie. Sie sah aus wie ein Raubtier, das vor dem Sprung seine Beute begutachtete.
Victoria wurde unbehaglich zumute. »Kann ich etwas für Sie tun?«
Señora Rodriguez löste auf einmal den Blick von ihr und sah zum Fenster. »Meine Tochter kein gute Job«, sagte sie und zuckte mit den Schultern, als würde sie gerade feststellen, schon wieder nicht im Lotto gewonnen zu haben. Danach blickte sie zurück zu Victoria. »Sie …« Ihr fiel offensichtlich das passende Wort nicht ein, denn sie schlug mit der Faust ihrer rechten in die Fläche ihrer linken Hand.
»Sie wurde geschlagen«, half Victoria ihr aus.
»Sí, sí«, erwiderte die Vermieterin mit einem heftigen Kopfnicken. »Geschlagen. Cabrones.«
Victoria versuchte, sich vorzustellen, in welchem Job eine Frau geschlagen werden konnte. Doch ihr fiel dazu nichts Anständiges ein. »Sie muss zur Polizei gehen«, schlug sie vor.
Die Alte wehrte ab. »Policía nichts gut, nichts gut. Policía schlecht.«
»Warum?«
»Nichts gut«, sagte die nur, dann legte sie ihre Hand auf Victorias Arm. »Du nicht gehen zu Policía, niemals.« Ihre Stimme wurde eindringlich.
Victoria versuchte, die Hand, die ihren Arm umklammerte, abzuschütteln, aber die Vermieterin hielt sie zu fest. Ihr Blick wich nicht vom Gesicht der jungen Frau.
»Warum nicht?«
»Niemals! Sie hören? Wenn hier passiert was, nichts Policía.«
Victoria schluckte verstört. Wovon sprach die Frau? »Und wenn mir etwas passiert?«
»Ich weiß Leute, sind besser als Policía. Niemals Policía, Sie verstehen?«
Victoria nickte. »Okay, keine Polizei.«
Zögerlich ließ die Alte ihren Arm los, wobei ihr Gesicht erneut diesen kritisch musternden Ausdruck zeigte. »Gut. Gut.« Sie versuchte, netter auszuschauen und wandte sich zum Gehen. »Gut Kuchen. Für Sie. Buen provecho! Gute Appetit!«
»Danke«, erwiderte Victoria, bevor die Frau hinausging und die Tür hinter sich zuschlug.
Sie hatte keine Ahnung, was die Alte ihr mit diesem Auftritt wirklich sagen wollte. Wieso lehnte sie die Polizei ab? Waren die Behörden wirklich schlecht und korrupt oder führte Señora Rodriguez etwas im Schilde?
Verloren stand die junge Frau in der Wohnung und grübelte darüber nach, was das für sie bedeutete. Falls ihr jemals etwas passieren sollte, würde ihr die Alte keine Polizei zur Hilfe schicken. Aber falls die Beamten tatsächlich korrupt waren, wäre das auch kein Verlust. Victoria gefiel nicht, was sie da soeben versprochen hatte. Sie konnte nur hoffen, niemals in eine Situation zu geraten, in der sie ihr Versprechen auch tatsächlich würde halten müssen. Aber wie in jedem Ort auf dieser Welt wurden auch auf dieser Insel Versprechen
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