Der geduldige Tod (German Edition)
mit dem Richter gesprochen, der hat in der Justizanstalt angerufen. Sie haben sogar in seiner Zelle nachgesehen. Er ist noch drin und betet den ganzen Tag. Er ist ganz sicher eingesperrt. Er kann es nicht gewesen sein.«
»Danke!« Erleichtert atmete sie auf, bevor sie ihrem Vater eine gute Nacht wünschte und auflegte.
Danach legte sie sich hin. Doch sie hatte keine besonders gute Nacht. Sie träumte wieder. In ihrem Traum saß sie in einem Restaurant, wo ihr ein Kellner eine Suppe reichte, in der zwei menschliche Augen schwammen. Die Augäpfel starrten sie unentwegt an, sie konnte sich nicht abwenden. Als sie endlich aufblickte, war der Kellner verschwunden. Stattdessen saß eine Frau an ihrem Tisch und hob anklagend ihre Beine. An der Stelle ihrer Füße befanden sich nur noch blutige Stumpen.
Schreiend wachte Victoria auf.
Sie lag den Rest der Nacht wach. Es war schwül draußen, und die Hitze war in ihr Schlafzimmer gekrochen. Schweiß klebte an ihrem Körper, ihr Mund war ausgetrocknet. Sie stand auf und ging in die Küche, um etwas zu trinken, legte sich jedoch danach wieder hin, um hellwach in die Dunkelheit zu starren und zu beobachten, wie sich das Morgenlicht allmählich in ihr Zimmer stahl. Das Gezeter von Señora Rodriguez trieb sie endgültig aus dem Bett.
Der Morgen hatte keine Abkühlung gebracht, noch immer hing eine schwüle Hitze in den Räumen und legte sich wie ein feuchtwarmer Film auf die Haut. Leider brachte das Aufreißen der Fenster keine Linderung, da es draußen nicht anders war. Dafür erfuhr Victoria den Grund für den Jammer ihrer Vermieterin. Gafas, die Katze, lag reglos neben dem Tor.
»Was ist passiert?«, fragte Victoria mitleidig, als sie Señora Rodriguez in den Garten folgte.
»Gafas tot. Muerte!«, klagte die Frau und deutete auf die leblose Katze zu ihren Füßen.
»Wie alt war sie?«
»Nicht alt! Gift! Sehen Sie?« Sie deutete auf einen kleinen Haufen Erbrochenes, der neben dem toten Tier lag. Er war schaumig-blutig, doch Victoria konnte Gräten darin entdecken und sogar einen Fischschwanz.
»Das tut mir sehr leid«, sagte sie und legte der Frau den Arm um die Schulter. »Wer macht denn so etwas?«
»Mörder!«, schrie Señora Rodriguez. »Asesinos!«
»Kann man die Leute zur Rechenschaft ziehen, die so etwas tun? Wer hat ihr denn den Fisch gegeben?«
»No lo sé. Ich weiß nicht. Oh, nein!« Sie schüttelte den Kopf. »Ich muss wegmachen.«
Victoria half ihr dabei, mit dem Spaten aus dem Schuppen ein Loch im Garten zu graben. Das war bei der Hitze eine schweißtreibende Angelegenheit, aber schließlich war die Katze in der Erde verstaut, auch das Erbrochene beseitigt.
Danach zog sich Señora Rodriguez in ihr Haus zurück, und Victoria ging ebenfalls in ihre Wohnung, wo sie sich in der Küche einen Kaffee brühen wollte. Doch als sie den kleinen Raum betrat, stockte ihr Schritt. Es roch intensiv nach Fisch. Sie erinnerte sich, ihren Einkauf gut eingepackt auf den Küchentisch abgelegt zu haben. Durch das Telefonat ihres Vaters abgelenkt, hatte sie jedoch völlig vergessen, den Fisch in den Kühlschrank zu räumen. Nun lag er nicht mehr in seiner kühlen Verpackung da. Das Papier war aufgefetzt, von dem Fisch nur noch ein übel zugerichteter Kadaver übrig.
»Wer hat meinen Fisch…?«, rief Victoria aus, doch mit einem Schlag wusste sie, wer sich daran vergriffen hatte. Gafas.
Erschrocken hielt sie die Hand vor den Mund. War sie vielleicht dafür verantwortlich, dass die Katze tot war? War sie etwa an ihrem Fisch gestorben?
Aufgeregt lief Victoria durch die Küche und suchte nach einer anderen einleuchtenden Erklärung. Aber ihr fiel nichts ein. Erst vor kurzem hatte sie die Katze dabei erwischt, wie sie Plätzchen von ihrem Tisch genascht hatte. Sie musste auch den Fisch gefressen haben. Aber wieso hatte der sie umgebracht?
Victoria musste sich setzen. Wenn sie den Fisch gegessen hätte, läge sie dann jetzt tot in ihrem Erbrochenen?
Ihr wurde schlecht. Das konnte doch nicht sein!
Ihr fiel die verschwundene Unterwäsche wieder ein. Das war vermutlich ein Streich gewesen. Aber das mit dem toten Fisch, das war kein Streich. Das war eine andere Kategorie. Wer sollte so etwas tun? Der Fischer auf dem Markt? Sie kannte ihn nicht einmal, hatte ihn noch nie vorher gesehen, warum sollte er sie also vergiften wollen? Jemand hätte den Fisch austauschen können, als er auf ihrer Treppe lag. Aber wer? Und warum? Sie hatte niemandem etwas getan. Sie war ja
Weitere Kostenlose Bücher