Der geduldige Tod (German Edition)
haben. Er musste in der Schublade sein.
Sie erinnerte sich daran, dass sie das Schubfach offen vorgefunden hatte, nachdem Francisco das erste Mal bei ihr übernachtet hatte. Hatte er nach dem Pass gesucht? Aber warum?
Danach überlegte sie, wer noch Zugang zu ihrer Wohnung hatte. Doch es fielen ihr nur zwei Menschen ein: Señora Rodriguez und Francisco. Und obwohl Erstere wohl mehr Gründe hatte, sich am Eigentum ihrer Mieterin zu vergreifen, blieben Victorias Gedanken immer wieder an Francisco hängen. Denn nun wurde ihr auch klar, dass er der Einzige auf der Insel war, der von dem wahnsinnigen Plan des Mörders wusste, eine neue Person zusammenzusetzen. Sie hatte ihm davon erzählt. Die zweite Frau wurde in der Nähe von Franciscos Weinbergs gefunden. Und er war angeblich mit der Tochter der Kommissarin zusammen. Er hatte zugegeben, dass er die Polizistin kannte, aber nicht gesagt, woher. Spielte er schon die ganze Zeit ein doppeltes Spiel mit ihr?
Ihr war so schlecht, dass sie sich setzen musste. Das durfte nicht sein. Er konnte es nicht gewesen sein. Oder doch?
Aufgeregt lief sie in ihrer Wohnung auf und ab. Als sie am offenen Fenster vorüberkam, hatte sie wieder das Gefühl beobachtet zu werden. Eine Gestalt stand am Tor und sah zu ihr hinauf. Panisch schloss sie die Vorhänge. Sie hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt.
Plötzlich klopfte es.
»Wer ist da?«, rief sie, ohne die Tür zu öffnen. Ihre Stimme klang hoch, fast schrill.
»Ich bin’s, Francisco.«
Sie erstarrte. Sollte sie ihn hereinlassen? Aber vielleicht war er wirklich der Killer?
»Ich bin müde, Francisco. Bitte geh nach Hause«, rief sie durch die geschlossene Tür. Sie wollte ihm nicht zeigen, dass sie Angst vor ihm hatte.
»Geht es dir gut?« Seine Stimme klang besorgt. »Ich habe dich von unten gesehen, du sahst verzweifelt und aufgebracht aus.«
Dann hatte er unten neben dem Tor gestanden und sie beobachtet. Und die anderen Male, als sie das Gefühl hatte, beobachtet zu werden? Hatte er nur so getan, als würde er ihr glauben? »Ich bin nur müde. Sonst nichts.« Sie konnte nicht mit ihm sprechen.
»Ich kann dich trösten.«
»Nein, heute nicht. Bitte geh.«
Er antwortete lange nicht und sie dachte schon, er sei fort, doch dann hörte sie seine Stimme wieder. »Gute Nacht, Victoria.« Seine Schritte verklangen.
Victoria setzte sich und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Sie musste zur Ruhe kommen, wenn sie einen klaren Gedanken fassen wollte. Jemand hatte ihren Pass gestohlen. Das musste sie der Polizei melden. Der Gedanke daran, schon wieder der Kommissarin gegenübersitzen zu müssen, gefiel ihr jedoch gar nicht. Vielleicht sollte sie erst noch gründlicher suchen, bevor sie die Sache den Behörden meldete. Vielleicht sollte sie sich auch an das deutsche Konsulat wenden.
Bei dem Gedanken spürte sie, wie sie auf einmal ruhiger wurde. Wenn die örtlichen Behörden ihr das Leben schwer machen wollten, halfen ihr bestimmt die deutschen weiter. Die kannten zumindest auch ihre Vorgeschichte besser. An den Medienberichten war niemand vorbeigekommen. Ihr Fall war fast so spektakulär wie der von Natascha Kampbusch gewesen und entsprechend publiziert worden.
Sie atmete tief ein und aus, bis ihre Hände ruhig auf ihrem Schoß lagen. Noch gab es eine kleine Chance, dass alles gut würde.
Gebete
Victoria schlief ganz schlecht in dieser Nacht. Sie träumte wirre und schreckliche Dinge, sie fühlte sich fast wie in den ersten Wochen nach ihrem traumatischen Erlebnis mit dem Mörder. Sie hatten ihm in Deutschland wirklich den Namen »Puppenmörder« gegeben, weil die toten Frauen wie Puppen ausgesehen hatten – mit einem hellen Porzellanteint, weil sie verblutet waren, parfümiert und geschminkt.
Als sie aufstand, fühlte sie sich noch immer appetitlos, zwang sich aber, einen kleinen Happen zu essen. Dann ging sie zum Telefon und wählte die Nummer von Dr. Jericho.
»Hier ist Victoria«, sagte sie einfach, als sich eine dunkle Männerstimme am anderen Ende der Leitung meldete.
»Victoria!« Der Angerufene klang erfreut. »Wie geht es Ihnen?«
»Nicht gut. Bitte helfen Sie mir, Dr. Jericho.«
»Ich hatte Ihnen nach der letzten Therapiestunde gesagt, dass Sie mich jederzeit anrufen können, wenn Sie Hilfe brauchen, also sagen Sie, was los ist. Ich habe Zeit.«
»Er ist wieder da. Hier. Hier ist ein Killer, der Frauen mordet und ihnen die Körperteile
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