Der geduldige Tod (German Edition)
Laster ablud, für ein paar Minuten im Haus verschwand und dann wieder herauskam. Er ging zu Fuß zum Tor hinunter, so dass sich Victoria hastig hinter einem Strauch verbergen musste, damit er sie nicht sah. Er wanderte einen schmalen Pfad hinauf, der zu der Kapelle auf dem Berg führte. Sie folgte ihm in sicherem Abstand, achtete darauf, dass er sie nicht zu sehen bekam. An der Kapelle angekommen kaufte er an einem Stand frische Blumen, dann ging er auf den Friedhof, der hinter der Kapelle lag. Sie schlich leise und unauffällig hinterher, bis sie sah, wie er an einem Grabmal seine Blumen niederlegte. Darauf standen mehrere Namen – es musste das Grab seiner Familie sein.
Sie hielt sich ein Weilchen im Schatten der Bäume auf dem Friedhof versteckt, bis er den Gottesacker wieder verließ und den schmalen Pfad zurückging.
Danach kehrte er heim, erntete frische Früchte im Garten, im Anschluss verschwand er im Haus und kam nicht heraus, bis Victoria müde wurde und nach Hause lief.
Am nächsten Tag kam sie sich schon selbst wie eine Verbrecherin vor, als sie seine Wege verfolgte, denn wieder tat er nichts Verdächtiges. Er kaufte Klopapier und andere Alltagsutensilien ein, unterhielt sich mit Freunden auf der Straße, besserte das Boot aus, aß eine gebratene Dorade in einem Restaurant und ließ ein defektes Rücklicht am Laster reparieren.
Am dritten Tag hatte Victoria das Versteckspiel satt und ging zu ihm, als er sich zu Hause aufhielt.
Bei ihrem Anblick unterbrach er freudig überrascht die Prüfung der Weintrauben.
»Ich hatte schon gedacht, du willst gar nichts mehr von mir wissen«, sagte er mit einem scheuen Lächeln.
Sie stand vor ihm wie ein Pudel, der den Sonntagsbraten gestohlen hat. »Es tut mir leid, ich hatte ein paar schreckliche Tage, weil mir die Kommissarin die Hölle heiß gemacht hat. Ich wollte sehen, wie es dir geht.«
»Lucia Hernandez hat wieder mit dir gesprochen? Was wollte sie?«
»Sie hat mich zu den Morden verhört und mir ganz nebenbei gesagt, du seist mit ihrer Tochter liiert.«
Er verzog abfällig den Mund. »Das hatte ich befürchtet, dass sie das sagt. Es ist nicht wahr. Ich hoffe, du hast es ihr nicht geglaubt! Wolltest du mich deshalb nicht sehen? Bist du eifersüchtig?«
Er wollte grinsend auf sie zukommen, doch sie schob ihn weg. »Was ist denn wahr?«
»Ich war einige Zeit mit ihrer Tochter zusammen, das stimmt, ich habe dir von ihr erzählt. Nach dem Tod meiner Familie habe ich Schluss gemacht.«
»Weiß sie das denn auch?« Victoria klang spitz.
»Ich habe ihr gesagt, dass ich Abstand brauche, um in Ruhe trauern zu können. Vielleicht denkt sie, dass es wieder etwas wird. Aber das wird es nicht. Das Kapitel ist abgeschlossen.« Er ging erneut auf sie zu und nahm ihre Hand. »Ich mag dich.«
Es klang so einfach und rührend, dass Victorias Widerstand schwächer wurde. Doch so schnell war sie nicht mehr bereit, ihm zu vertrauen.
»Hast du meinen Pass?«
Verdutzt runzelte er die Stirn. »Nein. Was soll ich mit dem?«
»Keine Ahnung. Er ist verschwunden.«
»Ich habe ihn nicht.« Er wollte seine Hand wegziehen, doch dieses Mal hielt sie sie fest und drückte sanft seine Finger. »Es ist für mich schwierig zu vertrauen. Es tut mir leid.«
Er nickte zögerlich, dann zog er sie zum Haus. »Ich möchte dir etwas zeigen.«
Sie stiegen die Stufen zum Eingang hinauf, dann öffnete er die schwere Eichentür. Sie standen in einer kühlen, großen Halle, von der mehrere Räume abgingen. Eine Treppe führte in den zweiten Stock. Er öffnete die erste Tür auf der rechten Seite, hinter der sich ein großer, gemütlicher Raum verbarg. Ein Flügel stand geöffnet vor einer langen Bücherwand, zerdrückte Kissen zierten ein großes Sofa. Auf dem ovalen Tisch befanden sich mehrere benutzte Teller und Tassen. Messer mit Marmeladenresten lagen daneben. Die Stühle waren vom Tisch geschoben worden, als wären die Personen darauf eilig aufgebrochen.
An dem Tisch blieb er stehen.
»Hattest du Besuch?«, fragte Victoria erstaunt mit Blick auf das benutzte Geschirr.
Er schüttelte den Kopf. »Das letzte Mal, dass an diesem Tisch jemand gegessen und getrunken hat, war vor einem Jahr, an dem Tag des Unglücks. Ich habe es noch nicht übers Herz gebracht, alles wegzuräumen.«
Sie starrte auf die Tassen, in denen uralter Kaffeesatz klebte. An einem Rand entdeckte sie die Spuren von Lippenstift. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. »Hier habt ihr immer gesessen und
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